Raúl hat die 85 Toten des schlimmsten Terroranschlages Argentiniens jeden Tag fest im Blick, wenn er in der Subte-Station „Pasteur-AMIA“ Milanesas brät, Empanadas verkauft oder mit seinen Kunden ein Schwätzchen hält. Seine Imbissbude liegt direkt gegenüber einer kleinen Gedenkstätte im U-Bahnhof des Barrio Once, die an den Terror und das Überleben erinnern will. Denn trotz des verheerenden Attentats hat sich die jüdische Gemeinde in Buenos Aires wieder aufgerappelt.
Beim Bombenanschlag auf das AMIA-Gebäude am 18. Juli 1994 wurden 85 Menschen getötet und 300 Personen verletzt. Es war der schwerste Bombenanschlag in der Geschichte Argentiniens. Das Asociación Mutual Israelita Argentina, eine Zentrale der jüdischen Gemeinde in Argentinien, wurde dabei völlig zerstört. Der Attentäter, der 21-Jährige Libanese Ibrahim Hussein Berro, konnte erst im November 2005 nach aufwendigen DNA-Untersuchungen identifiziert werden. Die Hintergründe für den Anschlag wurden bis heute nicht geklärt. Um 09:53 Uhr Ortszeit explodierte eine 300 bis 400 Kilogramm schwere Bombe, die in einem Renault-Lieferwagen vom Attentäter vor das Gebäude transportiert und gezündet wurde. Als Urheber und Auftraggeber wird die Hisbollah und der Iran vermutet; die Ermittlungen hinsichtlich der Urheberschaft sollen, nach Angaben von Wikileaks, von der US-Botschaft beeinflusst worden sein, und nicht auf in Argentinien selbst ermittelten Beweisen beruhen.
Im Januar 2015 klagte Alberto Nisman, 2005 von Néstor Kirchner zum Sonderstaatsanwalt und Nachfolger von Juan José Galeano für diesen Fall ernannt, die seit 2007 amtierende Staatspräsidentin Argentiniens, Christina Kirchner, an; er warf ihr vor, die Verfolgung der Hauptverdächtigen sabotiert zu haben. Am Tag, an dem Nisman seine Anklage im Parlament von Buenos Aires erläutern sollte, wurde er tot in seiner Wohnung mit einer Schusswunde am Kopf aufgefunden.
Der auf Nisman folgende Staatsanwalt, Gerardo Pollicita, wertete die Anklageschrift Nismans aus und erhob am 13. Februar 2015 offiziell Anklage gegen Kirchner wegen Strafvereitelung im Amt. Zudem werden der Außenminister Héctor Timerman und der Abgeordnete Andrés Larroque beschuldigt, Kirchner unterstützt zu haben, die mutmaßlichen Attentäter zu decken.
Den Alltag des Barrio Once beherrscht die Erinnerung an das Attentat kaum. Zwar steht vor dem neuen AMIA-Gebäude ein Polizist, der freundlich darauf hinweist, dass nur die Namen fotografiert werden dürfen, aber Polizei steht überall. Wobei Buenos Aires im Vergleich zu europäischen oder nordamerikanischen Metropolen eine ziemlich polizeifreie Zone ist. Wobei es das Once offiziell gar nicht gibt: Auf dem Stadtplan steht Balvanera.
Quicklebenig geht es hier zu, auf den Straßen stauen sich Autos, Menschen hasten oder kaufen hier ein. In allen Farben quellen die Stoffe aus den Geschäften. Ballkleider sollen aus den Frauen die schönste machen. In den Läden sitzen Schneiderinnen, die in Handarbeit Perlen und Pailletten aufnähen. Undenkbar in Europa. Unbezahlbar.
Anfang des letzten Jahrhunderts lebten rund 50 000 Juden in Argentinien, mehr als die Hälfte von ihnen im Once. Hier ließen sich die jüdischen Emigranten nieder. Hier war es erschwinglich, ein Häuschen zu kaufen, eine Werkstatt oder einen Laden einzurichten. Once lag in der Nähe der wichtigsten Straßen der Stadt. Sie bauten zuerst Synagogen, dann Schulen. In der Paso-Straße steht die zweitgrößte Synagoge der Stadt.
Viele der eingewanderten Juden kamen aus Lodz, dem polnischen Manchester. Als sie kamen, arbeiteten sie weiter als Schneider, eröffneten Textilfabriken. Später machten sie ihre Läden und Geschäfte im Once auf, handelten mit Stoffen und Bekleidung. Die Namen prangten in hebräischen Schriftzeichen und auf spanisch in den Schaufenstern.
Ende der 1940er und in den 50er Jahren war die Zahl der Juden in Argentinien am größten. 500 000 lebten hier, davon 350 000 in Buenos Aires, knapp 100 000 von ihnen im Once.
Das Viertel prosperierte und mit ihm seine Bewohner. Doch das Once war nie eine erstklassige Adresse. Wer es sich leisten konnte, zog in andere Viertel: nach Belgrano, Villa Crespo oder Flores. Damit verschwand das Jiddische aus dem Once. Auch die zwei Tageszeitungen in jiddischer Sprache, die im Once produziert wurden, gibt es nicht mehr.

Nach dem Anschlag und weil sich gegen Ende der 1990er Jahre die Wirtschaftskrise in Argentinien verschärfte, gab es eine Auswanderungswelle nach Israel. In den sieben Jahren zwischen dem Attentat und 2001 verließen rund 60 000 jüdische Familien das Land. Es heißt, dass heute um die 150 000 Juden in Argentinien leben. Knapp 30000 Orthodoxe leben im Once. Wegen der traditionellen Kleidung sind sie leicht erkennbar und prägen inzwischen – wieder – das Straßenbild.