Wer in Tunis aufs Mittelmeer hinausblickt, hat nicht nur das vermeintlich gelobte Land Europa vor Augen, sondern den ganzen Kontinent Afrika im Rücken. Mit allen Problemen, die mehr oder weniger alle ihre Wurzel im Kolonialismus haben. Frankreich war im 19. Jahrhunder eine Großmacht auf dem afrikanischen Kontinent: Ab 1830 konzentrierte sich die Grande Nation auf Afrika, beginnend an der Gegenküste des Maghreb, und eroberte zwischen 1845 und 1897 die gesamte Sahara, den größten Teil West- und Zentralafrikas.
Die Franzosen hatten in Tunesien die Herrschaft von den Osmanen übernommen, seit dem 16. Jahrhundert Machtinhaber, verantworlich für eine kulturelle Blüte, aber am Ende auch durch ihre ruinöse Machtausübung für den Staatsbankrott. Eine internationale britisch-französisch-italienische Finanzkommission wurde ins Leben zu rufen. Aufgrund seiner strategischen Lage wurde Tunesien schnell zum Zielpunkt der französischen und italienischen Interessen. Die Konsuln Frankreichs und Italiens versuchten, aus den finanziellen Schwierigkeiten der osmanischen Machthaber ihre Vorteile zu ziehen, wobei Frankreich darauf vertraute, dass sich England neutral verhalten würde und auch darauf, dass Bismarck die Aufmerksamkeit Frankreichs von der Elsaß-Lothringen-Frage ablenken wollte.
Einfälle von Plünderern in das Territorium Algeriens lieferten den Vorwand, Tunesien zu erobern. Im April 1881 drangen französische Truppen in Tunesien ein und eroberten innerhalb von drei Wochen Tunis, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Am 12. Mai 1881 wurde Muhammad III. al-Husain zur Unterzeichnung des Bardo-Vertrages gezwungen. Das Protektorat wurde mit den Vertrag von la Marsa vom 8. Juni 1883 gefestigt. Sie räumten Frankreich weitreichende Befugnisse in der Außen-, Verteidigungs- und Innenpolitik Tunesiens ein. Frankreich gliederte das Land in sein Kolonialreich ein und vertrat in der Folge Tunesien auf dem internationalen Parkett.
Auf wirtschaftlichem Gebiet gab es Fortschritte: Banken und Unternehmen wurden gegründet, die landwirtschaftliche Nutzfläche wurde erweitert und für den Anbau von Getreide und Oliven genutzt, 1885 wurden beträchtliche Phosphatvorkommen in der Region Seldja entdeckt. Nach dem Bau einiger Eisenbahnlinien begannen Phosphat- und Eisenerzabbau. Auch ein zweisprachiges Bildungssystem wurde eingeführt, das es den Eliten Tunesiens erlaubte, sich auf Arabisch und Französisch fortzubilden.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Widerstand gegen die französische Besatzung. 1907 gründeten Béchir Sfar, Ali Bach Hamba und Abdeljelil Zaouche die reformistische Intellektuellenbewegung Jeunes Tunisiens. Diese nationalistische Strömung zeigte sich in der Djellaz-Affäre 1911 und im Boykott der Straßenbahn von Tunis 1912. Von 1914 bis 1921 herrschte in Tunesien der Ausnahmezustand und jegliche antikolonialistische Presseäußerung wurde verboten. Trotzdem bekam die nationale Bewegung mehr Zulauf und zu Ende des Ersten Weltkriegs wurde von einer Gruppe um Abdelaziz Thâalbi die Destur-Partei gegründet. Sie verkündete nach ihrer offiziellen Gründung am 4. Juni 1920 ein Acht-Punkte-Programm, das neben der Unabhängigkeit auch für den Laizismus eintrat. Diese Position führte jedoch zur Spaltung der Destour-Partei in einen islamistischen und einen modernistischen und laizistischen Flügel: Neo-Destour. Dieser verlieh sich eine moderne Organisation nach dem Vorbild europäischer sozialistischer Parteien und beschloss als Ziel, die Macht zu ergreifen, um die Gesellschaft zu verändern.

Nach dem Scheitern von Verhandlungen mit der Regierung kam es 1937 zu einigen blutigen Zwischenfällen, die in den gewaltsam niedergeschlagenen Unruhen vom April 1938 gipfelten. Néo-Destour ging in den Untergrund 1940 lieferte das Vichy-Regime Bourguiba auf Verlangen Mussolinis an Italien aus, der sich erhoffte, damit die Résistance in Nordafrika zu schwächen. Bourguiba rief jedoch am 8. August 1942 zur Unterstützung für die Alliierten auf. Kurz darauf wurde das Land Schauplatz der Schlacht um Tunesien, an deren Ende die Truppen der Achsenmächte am 11. Mai 1943 zur Kapitulation am Kap Bon gezwungen wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der bewaffnete Widerstand Teil der Strategie zur nationalen Befreiung. Verhandlungen mit der französischen Regierung wurden geführt und Robert Schuman deutete 1950 sogar eine schrittweise Unabhängigkeit Tunesiens an; nationalistische Auseinandersetzungen führten 1951 jedoch zum Scheitern dieser Verhandlungen.
Nach der Ankunft des neuen Generalresidenten, Jean de Hauteclocque, am 13. Januar 1952 und der Verhaftung von 150 Destour-Mitgliedern am 18. Januar begann eine bewaffnete Revolte, während sich die Fronten auf beiden Seiten verhärteten. Die Ermordung des Gewerkschafters Farhat Hached durch die kolonialistische Extremistenorganisation La Main Rouge führte zu Kundgebungen, Unruhen, Streiks und Sabotageaktionen, wobei das Ziel immer mehr die Strukturen der Kolonisation und Regierung wurden. Frankreich mobilisierte 70000 Soldaten, um die tunesischen Guerilla-Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Diese Situation wurde erst mit der Zusicherung innerer Autonomie an Tunesien am 31. Juli 1954 entschärft. Am 3. Juli 1955 wurden schließlich von Tunesiens Premierminister Tahar Ben Ammar und seinem französischen Amtskollegen Edgar Faure die französisch-tunesischen Verträge unterzeichnet. Trotz des Widerstandes von Salah Ben Youssef, der in der Folge aus der Destour-Partei ausgeschlossen wurde, wurden die Verträge vom Kongress des Néo-Destour am 15. November ratifiziert. Nach neuen Verhandlungen erkannte Frankreich am 20. März 1956 die Unabhängigkeit Tunesiens an, wobei es die Militärbasis in Bizerta behielt.
Die Europäer – überwiegend Franzosen und Italiener, aber auch Malteser – stellten zum Ende der Kolonialzeit 1956 noch etwa 7 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1964 beschloß die Tunesische Nationalversammlung, alle ausländischen Grundbesitzer zu enteignen. Daraufhin verließ der größte Teil der bis dahin im Lande verbliebenen Europäer Tunesien. Heute liegt der Anteil der im Lande lebenden Europäer bei weniger als einem Prozent.
Das Erbe dieser französischen Herrschaft prägt die Neustadt in Tunis, auch wenn der koloniale Glanz mittlerweile ziemlich shabby ist. An der Porte de France, die etwas bezihungslos an auf der Place de la Victoire steht, endet diese Art-deco-Welt ziemlich plötzlich. Wer weiter schreitet, beritt die dämmrige, auch im 21. Jahrhundert teilweise fast mystische Welt der Souks.