Girl on the train

Mit dem Zug von Dinkelsbühl nach Syrakus: Das geht natürlich nicht, weil es in Dinkelsbühl gar keinen Zug mehr gibt. Also erst einmal im Auto nach Nördlingen.

Die Linie kenne ich noch aus der Zeit, als ich in München studierte. Der Bummelzug bringt mich zuerst nach Donauwörth. Möttingen, Hoppingen, Ebermergen, Wörnitzstein sind die kleinen Orte hier im Ries, die eigentlich keiner kennt und trotzdem einen Bahnhof haben, an dem regelmäßig Züge halten. Dinkelsbühl hat keinen, obwohl die Stadt viel bekannter ist und jedes Jahr von mehr Touristen heimgesucht wird.

Ich hätte mit meinen Regionalzug bis nach Augsburg weiterfahren können, wie mich der nette Schaffner aufmerksam macht. Will ich aber nicht, ich will ab Donauwörth ICE fahren.

Der kommt aus Kiel und ist an diesem fortgeschrittenen Sonntag Abend ziemlich leer. Dass er auf seiner Fahrt durch Deutschland voll besetzt gewesen sein muss, sieht man an den zurückgelassenen Coffee-to-Go-Bechern, die in den Netzen an den Rückseiten der Sitze ein Zeugnis der Wegwerfgesellschaft sind.

In München endet meine erste Etappe, mit der U-Bahn gehts zu meiner Übernachtungsmöglichkeit.

Tag #2

Jetzt wird’s ernst. Zugfahre nach Italien hat seit jeher einen gewissen Nervenkitzel. Früher, als wir mit dem Nachtzug von München nach Rom gefahren sind, war jedesmal Schluss in Innsbruck. Meistens hat in Italien irgendwer gestreikt und wir haben dann im Innsbrucker Bahnhof gecampt, zumindest, soweit die Bahnhofspolizei das zuließ, in der Ungewissheit, wann es weitergeht. Was es jedesmal tat, aber. Natürlich jenseits jeden Fahrplan und in völlig überefüllten Zügen. Die endlose Fahrt endete gefühlt Jahre später in Roma Termini.

So wie damals ist auch heute der Zug in München pünktlich losgefahren. Schon vor München Ost die erste kurze Verspätung. Jetzt, kurz vor Innsbruck, sind es schon 26 Minuten. Ursprünglich hatte ich einen Puffer von 1 Stunde 10 Minuten, bis mein Ferrari Richtung Napoli startet — aber dazu später mehr, falls ich den Boliden überhaupt erwische.

Also, dieser latente Nervenkitzel ist geblieben. Schaffe ich’s, schaffe ich’s nicht? Und was, wenn ich es nicht schaffe zum nächsten Zug? Werde ich dann in Bozen auf dem Bahnhof campen bis morgen oder nehme ich dann einen Bummelzug? Bis nach Neapel? Mein Ferrari würde für die Strecke fünfeinhalb Stunden brauchen.

Na ja, jetzt rollt der IC 81 nach Bologna. Bleibt zu hoffen, dass nicht weitere Stellwerksprobleme auftauchen.

Also diesmal kein Streik in Italien, kurzer Blick auf Innsbruck, es geht weiter.

Ab Innsbruck arbeitet sich der Zug in die Berge hoch. Rechter Hand gibt der Wald immer wieder einen Blick auf die Brennerautobahn frei. Am Berg reiht sich gleich einer bunten Kette ein Lkw an den anderen. Europa hat offensichtlich ein Transportproblem oder alle Lkw haben sich zu diesem Stau verabredet, der bis Bolzano reicht. Oder es ist jeden Tag so.

Obwohl Ende Mai, die Gipfel sind schneebedeckt. Es war ein lausiges Frühjahr und auch wenn es ausnahmsweise nicht zu warm und nicht zu trocken war: Ein ungutes Gefühl bleibt. Das Gefühl, dass die Welt längst aus allen Fugen geraten ist. In Russland am Polarkreis soll es in diesem Frühling 30 Grad warm gewesen sein, während es noch vor zwei Wochen in Sizilien schneite.

Ist Zugfahren die Lösung? Sollte man überhaupt nicht mehr verreisen? Nur noch mit dem Fahrrad zum nächsten Baggersee? Ginge das? Habe ich genug von der Welt gesehen, um mich jetzt mit meinem Flussstrandbad und meinem Garten zu begnügen? Keine Ahnung…

Die Züge sind jedenfalls voll. In meinem Abteil sitzen hauptsächlich Deutsche, die das lange Wochenende nutzen, um einen Abstecher nach Italien zu machen. Es wird allerlei parliert, hauptsächlich übers Essen und in welchen Theaterstücken man in jüngster Zeit so war. Mir gegenüber sitzt ein Amerikaner, der aus dem Fenster filmt, die ganze Zeit. Mit seiner Frau spricht er nicht. Er trägt so ein offizielles NASA-T-Shirt. Den langen stau, an dem wir vorbeifließen, findet er sehr spannend. Vielleicht wüsste die Raumfahrt eine Lösung.

Am Brenner hält der Zug. Ausweiskontrollen finden statt, eigentlich eher Gesichtskontrollen. Wer durchs europäische Klischee fällt, muss seine Papiere vorzeigen. Nach zehn Minuten geht es weiter. Franzensfeste hat den schönsten Bahnhof 2019, wie groß angepriesen wird. Dann Brixen. In Bozen endet für die Fahrt in diesem Zug. Er hat eine halbe Stunde Verspätung. Meinen Mitreisenden macht das nichts aus, die meisten wollen nach Verona und haben so halt eine halbe Stunde länger Zeit für ihren Prosecco. Ich habe so eine halbe Stunde weniger Zeit, mich auf dem Bahnhof in Bolzano umzuschauen, wo ein sonderbares patriotisches Denkmal die Ankommenden besucht. Es mir genauer anzuschauen, geht aber nicht.

Auf dem Bahnsteig ist es ziemlich warm, ein Gefühl, das ich schon fast nicht mehr kenne. Zum Glück hatte ich genug Puffer, um meinen Ferrari-Zug zu erreichen. Der bringt mich in sechs Stunden und neun Minuten nach Napoli, hoffe ich jedenfalls. Italotreno heißt die private Eisenbahngesellschaft, an der maßgeblich Ferrari beteiligt ist. Die Wagen sind jedenfalls genauso rot wie Sebastian Vettels Rennauto und der Zug soll bis zu 300 Stundenkilometer schnell sein. Wie alle privaten Unternehmen hatte es auch diese Zuggesellschaft schwer, Fuß zu fassen. Zu stark ist das staatliche Monopol. Das Ambiente ist jedenfalls sehr angenehm, es ist sauber, die Schaffner nennen sich Manager und Ansagen werden mit einem glockengleichen Signal angekündigt und eine Frauenstimme sagt alle Ansagen auch in einem lupenreinen Oxford-English. Darüber hätten sich im 19. Jahrhundert die Engländer gefreut, die scharenweise den Winter in Bella Italia verbracht hatten.

Natürlich reisen in diesem Zug jetzt hauptsächlich Italiener. Will heißen, dass es in diesem kühlen, angenehmen Großraumwagen zwei feste Größen gibt: schreiende Bambini, die mit Comic-Filmchen ruhig gestellt werden sollen, und Ragazzi, die sich Fußball-Filmchen anschauen. Von der Erfindung des Kopfhörers hält man hier nichts, auch wenn es die sanfte Stimme auf Italienisch und Oxford-Englisch durchgesagt hatte, keinesfalls Electronic devices ohne zu benutzen. Telefonieren tut sowieso jeder. Möglicherweise muss ich mir jetzt sechs Stunden lang den Kampf zwischen Zeichentrickfilmchen und spektakulären Toren anhören. Was meine Mitreisenden heute Abend mit ihren Familien essen werden, erfahre ich ganz nebenbei, wenn ich den Telefonaten zuhöre.

Ab Verona ist der Ferrari-Zug brechend voll. Freitag Nachmittag halt. Die beiden Kinder fangen an, durchs Abteil zu rennen, die Eltern hinterher. Wir rauschen über den Po, durch die Po-Ebene. Auf den Feldern gibt es derzeit offenbar viel zu tun, die Erntehelfer blicken kurz auf, als der Italotreno vorbeisaust. Hier gibt es, anders als in Sizilien, keine Afrikaner, die sich auf der Ackerkrume abrackern.

Dann Bologna. Hier ist der Bahnhof unterirdisch und auch danach rauscht der Schnellstzug hauptsächlich durch Tunnel. So schnell, dass alles anfängt zu vibrieren. Nur nicht daran denken, dass es sich um Technik handelt. Manchmal kommt ein Zug entgegen, genauso schnell. Das ist gruselig. Es heißt, der Italo fährt an die 300 km/h.

Im Tunnel leuchten die Displays. Alle starren auf den kleinen Bildschirm ihrer Telefonini. Der Mann schräg vor mir schaut sich den zweiten Teil von „Herr der Ringe an“. Epische Schlachten im Miniaturformat. Die Schlacht von Helms Klamm zerhackt zwischen Kurznachrichten. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Miteinander sprechen, Reisebekanntschaften schließen, das ist scheinbar nur noch eine Erinnerung aus meiner Jugendzeit. Komme ich jetzt auch schon in das Alter, in dem man denkt, dass früher alles besser war?

Firenze, irgendein Außenbahnhof. Dann Roma. Hier wechseln sich die Passagiere aus. Als der Italo in Roma Termini weiterfährt, ist er wieder genauso voll.

Der nächste Halt ist dann schon Napoli Centrale. Draußen ist alles pitschnass, überhaupt ist irgendwie ganz Italien abgesoffen, soweit ich das bei 300 km/h beurteilen kann.

Von Bolzano nach Napoli sind es 839 Kilometer auf der Autostrada del sole. Mein Navi sagt, dass man dafür theoretisch sieben Stunden und acht Minuten braucht, vermutlich, wenn man keine Pause macht. Der Zug ist um 12.41 Uhr losgefahren und war um 18.50 Uhr in Napoli. Das sind sechs Stunden und neun Minuten. Die Fahrkarte hat knapp 60 Euro gekostet.

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