Ich hab‘s aufgegeben! Mein jahrelanger Widerstand war zwecklos. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich im panificio oder beim fruttivendolo schon freundlich darum gebeten habe, mir keine Tüte zu geben. Alles vergeblich! Jetzt nehme ich jeden Tag aufs Neue das in einer Papiertüte verpackte Brot stoisch in einem Plastikbeutel entgegen und lege anschließend beim Gemüsehändler ohne zu murren eine weitere Plastiktasche mit den in einer Papiertüte abgewogenen Tomaten in meinen Einkaufskorb. Che cos’è, was soll‘s!
Seit 2011 sind Plastiktüten im herkömmlichen Sinn in Italien eigentlich verboten. Bis dahin waren die Italiener in Europa die Spitzenverbraucher der aus viel Erdöl erzeugten Beutel. Es heißt, dass seinerzeit an die 25 Milliarden Tüten im Jahr, durchschnittlich 300 Stück pro Kopf, unters Volk gebracht wurden. Auf solche Mengen zu kommen, war damals leicht. Nicht nur beim Großeinkauf wurden ungefragt Tüten zur Ware gelegt. Auch ein Sträußchen Petersilie auf dem Markt oder fünf Schrauben im Eisenwarenladen wurden grundsätzlich in Plastiktüten überreicht. Wer keine wollte, durfte mit einem erstaunten Blick des Verkaufspersonals rechnen.
Daran hat sich offenbar nichts geändert, nur dass die Tüten jetzt aus kompostierbarem Material sind. Und dass man im Supermarkt dafür bezahlen muss. Immerhin wird dort ein Nein akzeptiert.
Nicht aber in den kleinen Läden oder auf dem Markt, wo die Beutel ungefragt und gratuito zum Einkauf dazu gereicht werden. Aber was soll’s, denke ich mir, andere Länder, andere Sitten. Verstehen tue ich’s trotzdem nicht. Muss wohl mit irgendeiner italienischen Plastiktüten-Tradition zusammenhängen.
Wenigstens zersetzen sich diese sacchetti nicht erst in Jahrhunderten, sondern, wenn’s gut läuft, bei optimalen Bedingungen und konstant 60 Grad Celsius in 60 Tagen. Dass dabei Kohlendioxid frei wird, steht auf einem ganz anderen Blatt und ich will mich hier gewiss nicht als radikale Klimaschützerin aufspielen. Immerhin: Zum CO2-Ausgleich trage ich meine kleinen Plastiktüten im nachhaltigen Einkaufskorb jetzt ja zu Fuß nach Hause!
Meine Nachbarin Rosetta denkt, ich bin jetzt völlig verrückt geworden. Warum? Weil ich heute freiwillig meinen Mietwagen zurückgegeben habe. Nach nur einer Woche und noch mehrere Wochen in Sizilien vor mir. Rosetta glaubt, dass für mich das Leben in Sicilia damit aus und vorbei ist. Ohne Auto? Unvorstellbar für eine*n Sizilianer*in. Senza macchina? Cosa vuoi fare?
Zugegebenermaßen ist mir auch etwas flau im Magen geworden. Die Vorstellung, künftig nicht mehr spontan entscheiden zu können, sofort ans Meer zu fahren oder doch lieber eine Tour ins Hinterland zu machen, ist ein bisschen beängstigend. Libertà sempre e ovunque e in generale, damit ist’s nun wohl vorbei! Und dann hatten die mir bei der Autovermietung auch noch einen Fiat Cinquecento gegeben… mich von dem zu trennen, fiel mir echt schwer.
Andererseits: So ein Mietauto übt ja auch einen gewissen Druck aus: Man bezahlt dafür, jeden Tag und nicht zu wenig. Wenn ich es nicht genutzt habe, hatte ich fast schon ein schlechtes Gewissen. So wie wenn ich Geld zum Fenster rauswerfen würde. Das kann’s ja auch nicht sein. Dachte ich mir so in Deutschland und buchte den Wagen nur für die erste Woche.
Jetzt ist das Auto weg und den Rückweg von der Anmietstation in Catania bin ich mit dem Bus gefahren. Anstatt eines Autoschlüssels habe ich nun auf meinem Handy diverse Apps der sizilianischen Buslinien. Wenn man die Fahrkarten online kauft, sind sie nämlich um fast einen Euro günstiger. Wenn schon sparen, dann richtig. Man muss nur aufpassen, mit der richtigen App den Fahrschein zu lösen, sonst gilt der im falschen Bus nicht.
Der Bus kommt sogar pünktlich. Nachdem ich einen Platz gefunden habe, überschlage ich kurz, ob 7,50 Euro jetzt günstig sind oder nicht. Seitdem ich mit dem „Deutschlandticket“ in Germania für 49 Euro einen Monat lang jeden Tag von Garmisch nach Flensburg und zurück fahren könnte, kommt mir der Preis für eine einfache Fahrt Catania-Noto plötzlich ziemlich hoch vor. Wie sich die Zeiten doch ändern…
So ganz überzeugt bin ich jetzt in diesem Augenblick von meinem eigenen Plan selber nicht. Ein bisschen hat Rosetta sicher recht. Wenn ich an den Strand will, muss ich mein Zeug inklusive Sonnenschirm erst einmal zur Bushaltestelle schleppen und noch schlimmer: auf dem Heimweg von dort hunderte Treppen wieder nach oben. Und falls es am Meer unerwartet zu regnen anfängt, muss ich unter Umständen drei Stunden lang in einer Bar warten, um nicht nass zu werden. Und was ist, wenn ich abends den letzten Bus in Siracusa verpasse? Es wird auf jeden Fall spannend.
Wer weiß, wie sich mein Selbstversuch entwickeln wird in den kommenden Wochen. Möglicherweise bin ich nach drei Tagen bereits so entnervt, dass ich mir ein neues Auto miete. Mein Handyguthaben für Tickets würde auf jeden Fall noch für eine weitere Busfahrt nach Catania reichen.
Vielleicht lerne ich aber meine Stadt auf eine ganz neue Weise kennen, wenn ich sie mir ausschließlich zu Fuß erschließe. Auch auf die Gefahr hin, dass ich hier als la tedesca pazza, die verrückte Deutsche, in die Geschichte eingehen könnte.
Ich gebe es hier offen und ehrlich zu: Ich bin vernarrt in verlasse Gebäude. Je größer und verfallener, desto besser. Diese Obsession bringt mich hin und wieder dazu, an riskanten Stellen zu parken, über Mauern zu klettern und kilometerweit über Stoppelfelder zu stapfen. Nicht nur einmal habe ich mit meinem sonderbaren Verhalten hier in Sizilien beinahe Unfälle provoziert, weil mich Autofahrer ungläubig angestarrt haben.
Manchmal brauche ich Jahre, bis ich mich zu einer solchen Expedition durchringen kann, vor allem, wenn ich am Objekt meiner Begierde regelmäßig vorbeikomme. Die Stimmung muss passen, meine und die des Tages ebenso.
An der SP34, die von Noto zum Meer führt, liegt so ein aufgelassener Gutshof. Bougainvillea rahmt das verrostete Tor ein, wohl wegen des vielen Regens gerade besonders satt violett leuchtend. Die Mauer, die ein abgeerntetes Kornfeld von der Straße trennt, ist zum Glück niedrig, so dass ich mich ganz einfach dem stattlichen Gebäude nähern kann, das sich hinter einer Hecke aus Olivenbäumen vor der Welt versteckt.
Ein Fensterladen quietscht im Wind, der letzte Fetzen eines Vorhangs zeugt davon, dass hier irgendwann Menschen gelebt haben. Sie hätten jetzt kein Dach mehr über dem Kopf, es ist längst verschwunden.
Aus dem Mauerwerk wächst Grün, so als ob es das verlassene Gebäude langsam einhüllen und unsichtbar machen wollte.
Das große Tor, das wohl in einen Innenhof führt, scheint indes stabil und fest verschlossen. Ich wage nicht, daran zu rütteln, wünschte aber, es würde sich öffnen und mir einen Blick in die Vergangenheit gewähren.
Der Blick würde mich in die Zeit zurückführen, als die Spanier Sizilien beherrschten. Sie brauchten, wie alle Invasoren, große Mengen Getreide. Deshalb gaben sie dem sizilianischen Adel die Lizenz, unbesiedelte Gebiete urbar zu machen.
In der Folge entstanden baglio oder auf Sizilianisch bagghiu, befestigte, wehrhafte Güter mitten im Nirgendwo. Hier lebten Gutsherren und Landarbeiter zwar nicht auf der selben Etage, aber unter dem selben Dach. Der baglio war Kornkammer und Viehstall, Trutzburg und Dorf in einem.
Der Adel, dem das Land gehörte, saß in seinen Palazzi und schöpfte aus den Gütern seinen unermesslichen Reichtum ab. Bis die Zeit der noblen Herren vorbei war. Die riesigen baglio brauchte niemand mehr, sie wurden dem Verfall preisgeben, so wie auch viele der prunkvollen Palazzi von ihren stolzen, aber mittlerweile verarmten Besitzern nicht mehr zu halten waren.
Mein lost place an der SP34 muss das gleiche Schicksal haben: langsam zu verschwinden. Das Gut hatte nicht das Glück, in eine Ferienanlage umgewandelt zu werden wie so viele andere in Sizilien. Der baglio hatte andererseits das Glück, nicht einer neuen Wohnanlage weichen zu müssen. Vor einigen Jahren drohte dort eine Bautafel, die nichts Schönes verhieß.
So behalten wohl all die Seelen, die im baglio vor Jahrhunderten gelebt, gearbeitet, gestritten, geliebt und gelitten haben, vorerst weiter ihre Zuflucht auf diesem Flecken Erde, unbeachtet am Rande einer Provinzstraße. Der alte Olivenbaum vor dem Tor, so scheint‘s, bewacht ihren Frieden.
Es regnet. Nichts weiter. Kein Unwetter. Kein Gewittersturm. Keine Sturmflut, einfach nur schnödes schlechtes Wetter. Grauer Himmel und Regen. Die Temperatur so la la. Weder kalt noch warm.
Der Sommer ist bislang noch nicht in Sizilien angekommen. Und wenn sich der graue Regenschleier erst mal auf die Stadt gelegt hat, wirkt der bröckelnde Putz da und dort gleich nicht mehr so malerisch. Sizilien beiSonne kann jede*r. Aber was tun bei schlechtem Wetter?
Mir kommt der Regen allerdings ganz gelegen. Ist er doch eine wunderbare Ausrede, im Haus zu bleiben. Was das anbelangt, bin ich ganz gut integriert: nur nicht rausgehen, wenn’s regnet. Maximal zur macelleria oder um etwas Obst zu holen oder Brot. Bloß nicht sinnlos durch die Gegend latschen und nass werden.
Ein bisschen langweilig ist das zugegebenermaßen schon. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich nämlich: nichts. Sind ja alle in ihren Häusern. Kein Palaver, keine heulenden Kinder, niente.
Also nutze ich die Zeit, um mal die Schränke auszumisten. So richtig viele Sachen habe ich hier nicht. Und doch hat sich über die Jahre einiges Zeug angesammelt, hauptsächlich Kleidung, die irgendwann irgendwer wohl nicht mehr mit nach Hause nehmen wollte. Ausgeleierte Bikinis, zu klein gewordene Sachen von den Kindern, ausgetretene Schuhe, kaputtes Strandspielzeug, Sonnenschirme, die ihre besten Tage schon vor Jahren hatten.
Also weg damit. Den Sperrmüll kann ich auf dem Wertstoffhof ganz einfach loswerden. Aber einen Altkleider-Container haben sie hier nicht. In den Müll will ich die brauchbaren Sachen aber auch nicht werfen.
Jetzt bloß die zwei Säcke nicht wieder mit nach Hause nehmen, da stehen sie dann in den nächsten Jahren, ich kenne mich ja.
Etwas ratlos handle ich mit mir selbst einen Kompromiss aus: Die Säcke bleiben erstmal im Kofferraum liegen. Verbunden mit der Hoffnung, in den nächsten Tagen zufällig an einem Container vorbeizukommen. Und wenn nicht? Vedremo!
Und dann kann ich einfach nicht widerstehen und latsche trotz Regens doch noch ein bisschen sinnlos durch die Gegend. Der Strand und das Meer lohnen nämlich bei jedem Wetter einen Abstecher.
Sonntag Abend, beste Zeit für eine Passegiata. Bei einem Aperitif dem Treiben auf dem Corso zuschauen. Die sizilianischen Pärchen, Paare und Familien beobachten, die sich nur für diesen Zweck schick gemacht haben: sehen und gesehen werden. Also rein ins Gewimmel.
Die Stadt ist voll, für Anfang Juni sogar ziemlich voll. Kann am Markt liegen, der sich vor der Porta Reale unter den Bäumen des Corso Vittorio Emanuele ausbreitet. Hier gibt es Kitsch, Alltagskram, Wunderwaffen gegen Schmutz und auch ein paar Antiquitäten.
Ich höre mir an, was ein Verkäufer, der eher einem Börsenmakler gleicht als einem fliegenden Händler, an seinem Ferrari roten Stand verheißt: natürlich, den Turbo unter den Wischmobs, gnadenlos gegen Dreck. Klimaschonend, weil angetrieben durch Muskelkraft. Seine Ware geht weg wie warme Semmeln.
An der Porta Reale hat der Kiosk wieder geöffnet. Jetzt gibt es hier drinks, coffee, wine, food. Wo bisher in Neonschrift Caffè Porta Reale stand, prangt jetzt Candiano. Scheint ein Place to be geworden zu sein, zumindest wird hier tüchtig was gefeiert. Neugierige gibt es genug, die die schick gewandete Großfamilie bestaunen. Warum eine junge Frau vor einer unversehrten Torte steht, erschließt sich mir allerdings nicht. Das Fest scheint doch vorbei…
So richtig lange war ich diesmal nicht weg, aber dort, wo ich im März noch einen Sprizz getrunken habe, sind jetzt die Fenster der Bar mit alten Zeitungen abgeklebt. Chiuso per sempre. Dafür zähle ich auf dem Weg zur Kathedrale mindestens drei neue Restaurants. Trotz der vielen Menschen in der Stadt bleiben in den meisten aber die Kellner unter sich. Vermutlich war die Hoffnung, besser als alle anderen zu sein, die Triebfeder der Geschäftseröffnung. Oder der Wunsch, auch ein Stück vom Tourismus-Kuchen abzukriegen.
Viele der Läden haben englische Namen. Da werde ich plötzlich ein bisschen sentimental.
Gerade mal 14 Jahre sind seit meinem ersten Besuch in Noto vergangen. Ich erinnere mich an eine Stadt, die auch im August ein bisschen verschlafen wirkte, obwohl auch damals schon viele Menschen da waren. Die Restaurants hießen Ristorante, Pizzeria, Trattoria und die Speisekarten waren ausschließlich in Italienisch und alles schmeckte wunderbar. Selbst das Sternelokal Crocifisso war damals noch eine Gaststätte mit dem speziellen Sizilien-Flair: ungemütliche Energiesparlampen und auf jeden Fall nicht Insta-tauglich. Logisch, Instagram war damals noch gar nicht erfunden. Das Essen war aber trotzdem einfach umwerfend.
Heute hingegen heißt in Noto sogar manche Bäckerei, ein panificio, La Boutique del Pane!
Der Wandel war ein schleichender Prozess: Mit jedem restaurierten Palazzo kam etwas mehr vom Glanz dieser Stadt zurück. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Die Schönheit Notos lockte irgendwann Promis an und natürlich auch die Influencer. Heute ist Noto ein IT-Place, ein Place to be. Madonna hat hier vergangenes Jahr ihren Geburtstag gefeiert. Mehr Werbung geht eigentlich nicht. Und plötzlich fragen mich auch Freunde und Bekannte in Deutschland nach Noto und ob sie nicht mal…
Wie ich diesen Hype finde? Ungerecht. Denn für die Menschen, die hier ein ganz normales sizilianisches Leben führen müssen, bringt dieser Wandel wenig bis gar nichts. Eher im Gegenteil. Die Preise in den Bars explodieren. Vorbei sind die Zeiten, als ein Caffè hier 70 Cent gekostet hat. Und das liegt sicher nicht nur an der allgemeinen Inflation. Die Preise für Immobilien explodieren. Für junge Familien wird so ein eigenes Heim noch unerschwinglicher. Vertickt werden die Häuser von Immobilienhändlern, die auch Niederlassungen in Milano und New York City haben (behaupten sie jedenfalls).
Auch die Arbeitsmarktsituation wird nicht besser. Was hat mir Adriana, die Tochter meiner Nachbarin Rosetta, erst neulich erzählt? Qualifizierte Jobs gibt es in Noto für die Jungen keine. Höchstens im Dienstleistungsbereich, als Aushilfen, im Sommer, in der Hochsaison. Im Winter gibt es nichts zu tun. Also müssen viele wegziehen, in den Norden. Da helfen auch die vielen schönen Bilder der schönen Stadt auf Instagram nichts.
Noto ist im Wandel, wird gentrifiziert, auch aus der schäbigsten Hütte wird ein schickes Ferienhaus. Und trotzdem bewahrheitet sich auch in diesem Fieber: In Sizilien ändert sich nichts. Zumindest für die meisten Menschen nicht.
Danach sehne ich mich, wenn ich in Deutschland bin: nach der Mittagsruhe in Sizilien. Wenn so gegen 15 das letzte Geklapper der Töpfe, in denen das Mittagessen, gekocht wurde, verhallt ist. Wenn die Kinder in der Gasse der Müdigkeit, die sie plötzlich überfällt, weil sie gegen ihren Mittagsschlaf anbrüllen, Tribut zollen müssen. Wenn es plötzlich ganz still ist draußen.
Es fasziniert mich, wie das Leben hier in Sizilien jeden Tag aufs Neue Pause macht, mitten am Tag. Einfach so. Wie die Straßen von einem Moment auf den anderen verwaisen. Wie die Geschäfte mit Stahlrollos verrammelt werden, wenn der letzte Kunde hinauskomplimentiert worden ist. Nur um dann zwei, drei Stunden später wieder aufgesperrt zu werden.
Die Piazza Mazzini ist in diesen Stunden einsam. Niemand will sich auf einer der Bänke niederlassen. Die Kinderschaukel, um die abends lautstark gestritten wird, wiegt sich jetzt sanft im Wind.
Die Stille hat ihre eigene Kraft. Niemand würde jetzt einen Staubsauger in die Hand nehmen oder etwas anderes, das laut ist. Die Geräusche würden vervielfacht werden in diesem Meer ohne Dezibel.
Wenn sich die Ohren an die Geräuschlosigkeit gewöhnt haben, strengen sie sich an und nehmen langsam die feineren Töne wahr. Die Vorhänge, die sich im Wind bauschen. Das Getschwitscher eines Vogels irgendwo. Ganz weit weg in der Ferne leises Grummeln des Donners.
Die Augen machen es sich da einfacher. Sie werden über dem Buch schwer und fallen dann zu. Mittagsschlaf. Der dauert so lange, bis die erste Vespa die Abkürzung durch die Gasse nimmt. Und der erste Nachbar dem Fahrer seinen Ärger hinterher brüllt…
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; / Im Tale grünet Hoffnungs-Glück; / Der alte Winter, in seiner Schwäche, / Zog sich in rauhe Berge zurück.
Goethe, Faust I
Mir kommt nach einem langen, grauen und nasskalten Winter in Deutschland am ersten schönen Frühlingstag meist dieses Goethe-Zitat in den Sinn. Wenn es die Menschen rauszieht aus ihren Häusern, wenn die Parks überquellen und sich vor den Eisdielen lange Schlangen bilden. Ich dachte, das sei etwas typisch Deutsches, zumindest etwas Mitteleuropäisches. Ist es nicht, wie sich heute in Sizilien gezeigt hat.
Ich bin also zurück. Zum ersten Mal seit der Pandemie wieder zeitig im Jahr. Fast hatte ich schon vergessen, wie schön der Frühling in Sizilien ist. Überall blüht es, die Zitrusbäume brechen schier unter ihrer strahlend gelb und orangenen Last.
Wie immer, wenn am Haus die kleinen Wunden, die es in meiner Abwesenheit erlitten hat, verarztet sind und alle Nachbarn in der Gasse gebührend begrüßt wurden, führt mich mein erster Weg ans Meer. Am Strand von Lido di Noto sind allerdings noch deutliche Spuren der Stürme zu sehen, die im Winter der Insel zugesetzt haben.
Der letzte Sturm hat in Lido di Noto deutliche Spuren zurückgelassen.
Aber Corrado ist schon da. An seinem Granità-Wagen bilden sich Menschentrauben.
Nebenan, in Calabernardo, scheint der komplette Strand weggespült worden zu sein. Statt des Sandes hat es Plastikmüll angespült, zwischen dem ein einsamer Vogel stakst.
In Calabernardo wurde der Strand weggespült.
Mal schauen, wie es in der Nachbarstadt Avola aussieht. Keine sechs Kilometer weiter ist entweder alles bereits wieder weggeräumt oder aber der Sturm war hier nicht so schlimm. Die Strandpromenade ist ebenso bevölkert wie der Strand und die nahen Bars. Erste Wagemutige nehmen bereits ein Sonnenbad, etwas Zaghaftere wollen von ihren Daunenmänteln noch nicht lassen, trotz der gefühlt 30 Grad Celsius.
Sonntagsspaziergang in Avola.
Aber egal ob in dicker Winterjacke oder in der Badehose: Bei allen ist ein Aufatmen zu spüren. Erleichterung, dass der Winter sich in rauhe Berge zurückgezogen hat. Vorfreude auf die kommenden hellen Monate, die längeren Tage und kürzeren Nächte. Das Glück über das Frühlingserwachen ist scheinbar unabhängig vom Breitengrad.
Zugegeben, es geht IMMER im Schneckentempo voran, am Lufthansa-Schalter in Catania. So wie an allen anderen Schaltern in Sizilien eben auch. Das weiß man ja, wenn man ein bisschen was über die Insel gelernt hat. Hier wird zwar sehr schnell geredet, aber die Handlungen sind entschleunigt. Ich finde das schön. Eilig darf man es halt nicht haben, aber wer auf den letzten Drücker zum Flughafen kommt, ist am Schalter wiederum auch ganz schnell dran. Nur Touristen sind zwei meist Stunden früher da.
Ich war heute auch früher da, weil ich an meinem Flug eine Änderung vorgenommen hatte und mir nicht ganz sicher war, ob das geklappt hat. Also habe ich mir die Warterei in voller Ausprägung gegeben.
In den erst fünf Minuten hatte bei meinen Mitreisenden die Urlaubserholung noch voll durchgeschlagen. Es wurde gelacht, die Gesichter wirkten entspannt, wo es in Sizilien am schönsten war, wurde verglichen.
Aber als dann der erste gemault hat, wie lange das hier alles dauert, breitete sich miese Stimmung aus wie ein Lauffeuer. Es entwickelten sich richtige Diskussionen über das lahme Bodenpersonal. Wie die das effektiver machen könnten. Dass das unverschämt ist usw. usw.
Derweil kroch die Schlange langsam weiter. Das Lufthansa-Personal ließ sich von den mit den Hufen scharrenden Passagieren nicht aus der Ruhe bringen. Als einige Menschen im Rollstuhl vorgelassen wurden, hat es gerade noch gefehlt, dass die beschimpft worden wären.
So nach einer Dreiviertelstunde, ich war fast bis zum Check in vorgedrungenen, drängelte sich ein deutsches Paar vor. Es war zu diesem Zeitpunkt noch über eine Stunde bis zum Boarding. Ganz aufgelöst ob der Schlange wollten sie bevorzugt behandelt werden, sie würden ja sonst ihr Flugzeug verpassen. War ja nicht so, dass wir später alle im selben Flieger sitzen würden…
Unter meinen Mitmenschen machte sich Unruhe breit, ich glaube, manche wären auch gewaltbereit gewesen, wenn die beiden mit ihrem Vorstoß erfolgreich gewesen wären.
Waren sie aber nicht. Die beiden Mitarbeiter am Schalter wiesen das Paar geduldig und extrem freundlich auf die frühe Uhrzeit hin. Pazienza in Reinform.
Etwas mehr Geduld hätte auch den anderen Wartenden gutgetan. Noch einmal mal das sizilianische Gewusel inmitten der Langsamkeit genießen und nach erfolgreicher Gepäckaufgabe noch einmal vor die Abflughalle gehen, eine Portion Sonne tanken und einen letzten Blick auf den Ätna werfen. Einfach in der Warteschlange noch mal inne halten, der Stress in Deutschland kommt dann bald von ganz alleine.
Ich habe mir nach dem Einchecken als Gruß an den rauchenden Vulkan draußen noch eine Zigarette angesteckt. Dort traf ich auf ein sizilianisches Paar. Die hatten es wirklich ziemlich eilig, waren schon fast zu spät für ihren Flug, meinten sie. Aber eine Zigarette geht immer, meinten sie.
Der Prophet ist hier allgegenwärtig: Er nennt sich François und überall wirbt er für seine Dienste. Ziemlich bescheuert, denke ich mir jedesmal, wenn ich an einem dieser hässlichen Plakate vorbeikomme. Die Vorstellung, dass tatsächlich Menschen seinen Rat suchen, erscheint mir absurd.
Je öfter ich aber an diesem einen Transparent vorbeifahre, das auf dem Weg zum Meer an einer Bahnüberführung hängt, desto neugieriger werde ich. Nicht unbedingt darauf, was mir die Zukunft bringt, aber wer oder was dieser profeta ist.
Also habe ich ihn gegoogelt. Die sind hier ja alle auf Facebook, jedes Bauunternehmen wirbt im Metaverse für sich. So ein Konstrukteur des Schicksals macht da sicher keine Ausnahme.
Ich finde allerdings nur ein paar kurze Videos, auf denen ein ziemlich lächerlicher Mann zu sehen ist. Ob es der ist, der für sich auf den Plakaten wirbt, kann ich nicht sagen, vielleicht gibt es mehrere solcher Propheten. Dann ist da noch ein Zeitungsartikel, in dem von einem Mafioso die Rede ist, der den Künstlernamen Profeta François haben soll. Die Zusammenhänge sind mir nicht klar und eigentlich auch egal. Obskur ist das Ganze auf jeden Fall, egal wie man in die Kristallkugel schaut.
Dass die Menschen hier in Sizilien aber dem Übersinnlichen zugetan sind, fällt schon auf. Alle tragen irgendeinen Talisman um den Hals, bekreuzigen vor jeder Heiligenfigur, die hier ja an jeder Straßenecke stehen und gehen auch mal schnell in eine Kirche, um göttlichen Rat einzuholen. Selbst die Jungen.
Sogar in den sizilianischen Kirchen wie hier in Avola werden an Heiligenfiguren noch zusätzlich Talismane geheftet. Sicher ist sicher.
Und auch Wahrsager scheinen einen Markt zu haben. Woran das wohl liegt? Vielleicht an der Geschichte Siziliens, die voller Mythen ist, die die Griechen hierhergebracht haben. So gilt zum Beispiel in der antiken Überlieferung seit Homer Teiresias als Seher schlechthin. Das ist der Wahrsager, der dank seiner Blindheit in der Lage ist, weiter zu blicken und die Zukunft vorauszusehen. Teiresias hat verschiedene Gesichter und Lebensphasen durchlaufen – vom Mann zur Frau, vom Jungen zum Alten, er kennt sich also aus. Sein Symbol wird hier als Kettenanhänger verkauft.
In Sizilien, der Insel der geheimen Absprachen, wird hinter dicht zugezogenen Vorhängen, so vermute ich, auch heute noch die Magie gepflegt. Zu den Orakeltechniken, von denen mir erzählt wurde, gehören zum Beispiel Oliven und Zitronen. In der Zukunftsschau, der sogenannten Divination, ist die heimische Produktion an Feldfrüchten für viele Sizilianer offenbar unverzichtbar.
Man könnte sich von einem Olivenbaum einen Zweig abschneiden. Ob man damit in die Zukunft sehen kann? Keine Ahnung. Hübsch sähe es jedenfalls aus.
So kann man angeblich, wie man mir allen Ernstes erklärt hat, mit einer Olive in die Zukunft sehen. Dazu braucht man einen Ölbaumzweig über der Tür. Prophetische Träume von der nächsten Liebe sind damit quasi garantiert und der nächste annehmbare Mann, der die Schwelle überschreitet, wird dann die Glückliche hinter der Tür auch heiraten. Schon allein diese Mann/Frau-Sache finde ich sowas von Retro. Nun ja, mich erinnert das außerdem ein bisschen an die Mistelzweige, die in der Weihnachtszeit mittlerweile auch in Deutschland über jeder Haustür hängen.
Zitronen gehen auch, wie es heißt. Mit bunten Stecknadeln gespickt kann man sie einem guten Freund oder einer Freundin schenken und zusehen, wie deren Glück sich mehrt. Das wiederum würde ich als Voodoo-Zauber bezeichnen. Man kann das auch für sich selbst machen, dann muss die Zitrone in eine Schachtel. Das Glück, so wollte man mir weismachen, wird dann dauerhaft ins Haus gezogen.
Nun ja, Oliven habe ich persönlich lieber in einem Martini und Zitronen in einem Gin Tonic… Magische Zweckentfremdung würde ich als Lebensmittelverschwendung bezeichnen.
Zitronen 🍋 sind meiner Meinung nach in einem Gin Tonic besser aufgehoben als mit Stecknadeln gespickt in einer Schachtel.
Aber eines würde ich am Vorabend meiner Abreise schon gerne wissen: Wann ich nach Sizilien zurückkehren werde. In den vergangenen drei Jahren kam es nach dem Winter nämlich jedes Mal ganz anders, als ich es geplant hatte. Vielleicht sollte ich doch mal schnell bei Profeta François anrufen. 😉
Putzen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich mache es halt, weil es gemacht werden muss. Das ist in Deutschland ebenso wie hier. In Sizilien kommt noch ein anderes Problem dazu: den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.
Meine Aufenthalte sind ja leider nie so lange, dass sich eine richtige Routine entwickeln würde. Eigentlich wäre gleich nach meiner Rückkehr der passende Moment, den Wischmop in die Hand zu nehmen. Denn je nachdem, wie lange ich weg war, hat sich auf alles eine dicke Staubschicht gelegt.
Aber am Anfang gibt es so viel, was meiner Ansicht nach wichtiger ist: ans Meer fahren, mich bei meiner Community zurück melden, Deutschland abschütteln und der eine oder andere Text, der sich in meinem Koffer hierher geschlichen hat, will auch noch geschrieben werden. Das nimmt alles ganz schön Zeit in Anspruch.
Da muss es also genügen, erstmal die Betten frisch zu beziehen und Küche und Bad zu reinigen. Ein bisschen Hygiene muss schon sein.
Leider setzt dann zügig der Gewöhnungseffekt ein. Das, was regelmäßig zu tun ist, zum Beispiel die Böden wischen, Küche und Bad putzen oder Wäsche waschen, wird gemacht.
Aber dass man beim Blick aus dem Fenster durch Sedimentschichten von Schmutz schauen muss, fällt schnell gar nicht mehr auf. Ist ja auch egal, die Läden sind ohnehin die ganze Zeit geschlossen. Entweder weil es draußen zu heiß ist oder regnet.
Wenn ich Rosetta, meine Nachbarin sehe, die regelmäßig ihre Fenster poliert, vor der Haustür fegt und den Staubwedel in der Hand hat, fühle ich mich ganz schäbig. Mich selbst aufraffen kann ich trotzdem nicht: denn entweder ist es zu heiß oder es regnet.
So verstreicht die Zeit. Ist der Zenit meines Hierseins bereits überschritten, macht sich eine weitere Ausrede breit: In den hintersten Ecken zu putzen lohnt sich gar nicht mehr. Vor der Rückkehr nach Deutschland hier noch alles zum Strahlen zu bringen, wer hätte da was davon? Verstaubt ja bis zu meiner Rückkehr ohnehin wieder.
Außerdem muss ich mich noch von meiner Community verabschieden, ans Meer fahren und die gesamte Schönheit Siziliens aufsaugen. Für Haushalt habe ich da einfach keine Zeit.
Da hilft mir meine liebste sizilianische Lebensweisheit: pazienza, Geduld. Der richtige Moment wird schon kommen. Irgendwann…