Place to be

Sonntag Abend, beste Zeit für eine Passegiata. Bei einem Aperitif dem Treiben auf dem Corso zuschauen. Die sizilianischen Pärchen, Paare und Familien beobachten, die sich nur für diesen Zweck schick gemacht haben: sehen und gesehen werden. Also rein ins Gewimmel.

Die Stadt ist voll, für Anfang Juni sogar ziemlich voll. Kann am Markt liegen, der sich vor der Porta Reale unter den Bäumen des Corso Vittorio Emanuele ausbreitet. Hier gibt es Kitsch, Alltagskram, Wunderwaffen gegen Schmutz und auch ein paar Antiquitäten.

Ich höre mir an, was ein Verkäufer, der eher einem Börsenmakler gleicht als einem fliegenden Händler, an seinem Ferrari roten Stand verheißt: natürlich, den Turbo unter den Wischmobs, gnadenlos gegen Dreck. Klimaschonend, weil angetrieben durch Muskelkraft. Seine Ware geht weg wie warme Semmeln.

An der Porta Reale hat der Kiosk wieder geöffnet. Jetzt gibt es hier drinks, coffee, wine, food. Wo bisher in Neonschrift Caffè Porta Reale stand, prangt jetzt Candiano. Scheint ein Place to be geworden zu sein, zumindest wird hier tüchtig was gefeiert. Neugierige gibt es genug, die die schick gewandete Großfamilie bestaunen. Warum eine junge Frau vor einer unversehrten Torte steht, erschließt sich mir allerdings nicht. Das Fest scheint doch vorbei…

So richtig lange war ich diesmal nicht weg, aber dort, wo ich im März noch einen Sprizz getrunken habe, sind jetzt die Fenster der Bar mit alten Zeitungen abgeklebt. Chiuso per sempre. Dafür zähle ich auf dem Weg zur Kathedrale mindestens drei neue Restaurants. Trotz der vielen Menschen in der Stadt bleiben in den meisten aber die Kellner unter sich. Vermutlich war die Hoffnung, besser als alle anderen zu sein, die Triebfeder der Geschäftseröffnung. Oder der Wunsch, auch ein Stück vom Tourismus-Kuchen abzukriegen.

Viele der Läden haben englische Namen. Da werde ich plötzlich ein bisschen sentimental.

Gerade mal 14 Jahre sind seit meinem ersten Besuch in Noto vergangen. Ich erinnere mich an eine Stadt, die auch im August ein bisschen verschlafen wirkte, obwohl auch damals schon viele Menschen da waren. Die Restaurants hießen Ristorante, Pizzeria, Trattoria und die Speisekarten waren ausschließlich in Italienisch und alles schmeckte wunderbar. Selbst das Sternelokal Crocifisso war damals noch eine Gaststätte mit dem speziellen Sizilien-Flair: ungemütliche Energiesparlampen und auf jeden Fall nicht Insta-tauglich. Logisch, Instagram war damals noch gar nicht erfunden. Das Essen war aber trotzdem einfach umwerfend.

Heute hingegen heißt in Noto sogar manche Bäckerei, ein panificio, La Boutique del Pane!

Der Wandel war ein schleichender Prozess: Mit jedem restaurierten Palazzo kam etwas mehr vom Glanz dieser Stadt zurück. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. Die Schönheit Notos lockte irgendwann Promis an und natürlich auch die Influencer. Heute ist Noto ein IT-Place, ein Place to be. Madonna hat hier vergangenes Jahr ihren Geburtstag gefeiert. Mehr Werbung geht eigentlich nicht. Und plötzlich fragen mich auch Freunde und Bekannte in Deutschland nach Noto und ob sie nicht mal…

Wie ich diesen Hype finde? Ungerecht. Denn für die Menschen, die hier ein ganz normales sizilianisches Leben führen müssen, bringt dieser Wandel wenig bis gar nichts. Eher im Gegenteil. Die Preise in den Bars explodieren. Vorbei sind die Zeiten, als ein Caffè hier 70 Cent gekostet hat. Und das liegt sicher nicht nur an der allgemeinen Inflation. Die Preise für Immobilien explodieren. Für junge Familien wird so ein eigenes Heim noch unerschwinglicher. Vertickt werden die Häuser von Immobilienhändlern, die auch Niederlassungen in Milano und New York City haben (behaupten sie jedenfalls).

Auch die Arbeitsmarktsituation wird nicht besser. Was hat mir Adriana, die Tochter meiner Nachbarin Rosetta, erst neulich erzählt? Qualifizierte Jobs gibt es in Noto für die Jungen keine. Höchstens im Dienstleistungsbereich, als Aushilfen, im Sommer, in der Hochsaison. Im Winter gibt es nichts zu tun. Also müssen viele wegziehen, in den Norden. Da helfen auch die vielen schönen Bilder der schönen Stadt auf Instagram nichts.

Noto ist im Wandel, wird gentrifiziert, auch aus der schäbigsten Hütte wird ein schickes Ferienhaus. Und trotzdem bewahrheitet sich auch in diesem Fieber: In Sizilien ändert sich nichts. Zumindest für die meisten Menschen nicht.

Stille

Danach sehne ich mich, wenn ich in Deutschland bin: nach der Mittagsruhe in Sizilien. Wenn so gegen 15 das letzte Geklapper der Töpfe, in denen das Mittagessen, gekocht wurde, verhallt ist. Wenn die Kinder in der Gasse der Müdigkeit, die sie plötzlich überfällt, weil sie gegen ihren Mittagsschlaf anbrüllen, Tribut zollen müssen. Wenn es plötzlich ganz still ist draußen.

Es fasziniert mich, wie das Leben hier in Sizilien jeden Tag aufs Neue Pause macht, mitten am Tag. Einfach so. Wie die Straßen von einem Moment auf den anderen verwaisen. Wie die Geschäfte mit Stahlrollos verrammelt werden, wenn der letzte Kunde hinauskomplimentiert worden ist. Nur um dann zwei, drei Stunden später wieder aufgesperrt zu werden.

Die Piazza Mazzini ist in diesen Stunden einsam. Niemand will sich auf einer der Bänke niederlassen. Die Kinderschaukel, um die abends lautstark gestritten wird, wiegt sich jetzt sanft im Wind.

Die Stille hat ihre eigene Kraft. Niemand würde jetzt einen Staubsauger in die Hand nehmen oder etwas anderes, das laut ist. Die Geräusche würden vervielfacht werden in diesem Meer ohne Dezibel.

Wenn sich die Ohren an die Geräuschlosigkeit gewöhnt haben, strengen sie sich an und nehmen langsam die feineren Töne wahr. Die Vorhänge, die sich im Wind bauschen. Das Getschwitscher eines Vogels irgendwo. Ganz weit weg in der Ferne leises Grummeln des Donners.

Die Augen machen es sich da einfacher. Sie werden über dem Buch schwer und fallen dann zu. Mittagsschlaf. Der dauert so lange, bis die erste Vespa die Abkürzung durch die Gasse nimmt. Und der erste Nachbar dem Fahrer seinen Ärger hinterher brüllt…

Zum Glück bin ich wieder in Sizilien.

Im Schneckentempo

Zugegeben, es geht IMMER im Schneckentempo voran, am Lufthansa-Schalter in Catania. So wie an allen anderen Schaltern in Sizilien eben auch. Das weiß man ja, wenn man ein bisschen was über die Insel gelernt hat. Hier wird zwar sehr schnell geredet, aber die Handlungen sind entschleunigt. Ich finde das schön. Eilig darf man es halt nicht haben, aber wer auf den letzten Drücker zum Flughafen kommt, ist am Schalter wiederum auch ganz schnell dran. Nur Touristen sind zwei meist Stunden früher da.

Ich war heute auch früher da, weil ich an meinem Flug eine Änderung vorgenommen hatte und mir nicht ganz sicher war, ob das geklappt hat. Also habe ich mir die Warterei in voller Ausprägung gegeben.

In den erst fünf Minuten hatte bei meinen Mitreisenden die Urlaubserholung noch voll durchgeschlagen. Es wurde gelacht, die Gesichter wirkten entspannt, wo es in Sizilien am schönsten war, wurde verglichen.

Aber als dann der erste gemault hat, wie lange das hier alles dauert, breitete sich miese Stimmung aus wie ein Lauffeuer. Es entwickelten sich richtige Diskussionen über das lahme Bodenpersonal. Wie die das effektiver machen könnten. Dass das unverschämt ist usw. usw.

Derweil kroch die Schlange langsam weiter. Das Lufthansa-Personal ließ sich von den mit den Hufen scharrenden Passagieren nicht aus der Ruhe bringen. Als einige Menschen im Rollstuhl vorgelassen wurden, hat es gerade noch gefehlt, dass die beschimpft worden wären.

So nach einer Dreiviertelstunde, ich war fast bis zum Check in vorgedrungenen, drängelte sich ein deutsches Paar vor. Es war zu diesem Zeitpunkt noch über eine Stunde bis zum Boarding. Ganz aufgelöst ob der Schlange wollten sie bevorzugt behandelt werden, sie würden ja sonst ihr Flugzeug verpassen. War ja nicht so, dass wir später alle im selben Flieger sitzen würden…

Unter meinen Mitmenschen machte sich Unruhe breit, ich glaube, manche wären auch gewaltbereit gewesen, wenn die beiden mit ihrem Vorstoß erfolgreich gewesen wären.

Waren sie aber nicht. Die beiden Mitarbeiter am Schalter wiesen das Paar geduldig und extrem freundlich auf die frühe Uhrzeit hin. Pazienza in Reinform.

Etwas mehr Geduld hätte auch den anderen Wartenden gutgetan. Noch einmal mal das sizilianische Gewusel inmitten der Langsamkeit genießen und nach erfolgreicher Gepäckaufgabe noch einmal vor die Abflughalle gehen, eine Portion Sonne tanken und einen letzten Blick auf den Ätna werfen. Einfach in der Warteschlange noch mal inne halten, der Stress in Deutschland kommt dann bald von ganz alleine.

Ich habe mir nach dem Einchecken als Gruß an den rauchenden Vulkan draußen noch eine Zigarette angesteckt. Dort traf ich auf ein sizilianisches Paar. Die hatten es wirklich ziemlich eilig, waren schon fast zu spät für ihren Flug, meinten sie. Aber eine Zigarette geht immer, meinten sie.

Der Prophet

Der Prophet ist hier allgegenwärtig: Er nennt sich François und überall wirbt er für seine Dienste. Ziemlich bescheuert, denke ich mir jedesmal, wenn ich an einem dieser hässlichen Plakate vorbeikomme. Die Vorstellung, dass tatsächlich Menschen seinen Rat suchen, erscheint mir absurd.

Je öfter ich aber an diesem einen Transparent vorbeifahre, das auf dem Weg zum Meer an einer Bahnüberführung hängt, desto neugieriger werde ich. Nicht unbedingt darauf, was mir die Zukunft bringt, aber wer oder was dieser profeta ist.

Also habe ich ihn gegoogelt. Die sind hier ja alle auf Facebook, jedes Bauunternehmen wirbt im Metaverse für sich. So ein Konstrukteur des Schicksals macht da sicher keine Ausnahme.

Ich finde allerdings nur ein paar kurze Videos, auf denen ein ziemlich lächerlicher Mann zu sehen ist. Ob es der ist, der für sich auf den Plakaten wirbt, kann ich nicht sagen, vielleicht gibt es mehrere solcher Propheten. Dann ist da noch ein Zeitungsartikel, in dem von einem Mafioso die Rede ist, der den Künstlernamen Profeta François haben soll. Die Zusammenhänge sind mir nicht klar und eigentlich auch egal. Obskur ist das Ganze auf jeden Fall, egal wie man in die Kristallkugel schaut.

Dass die Menschen hier in Sizilien aber dem Übersinnlichen zugetan sind, fällt schon auf. Alle tragen irgendeinen Talisman um den Hals, bekreuzigen vor jeder Heiligenfigur, die hier ja an jeder Straßenecke stehen und gehen auch mal schnell in eine Kirche, um göttlichen Rat einzuholen. Selbst die Jungen.

Sogar in den sizilianischen Kirchen wie hier in Avola werden an Heiligenfiguren noch zusätzlich Talismane geheftet. Sicher ist sicher.

Und auch Wahrsager scheinen einen Markt zu haben. Woran das wohl liegt? Vielleicht an der Geschichte Siziliens, die voller Mythen ist, die die Griechen hierhergebracht haben. So gilt zum Beispiel in der antiken Überlieferung seit Homer Teiresias als Seher schlechthin. Das ist der Wahrsager, der dank seiner Blindheit in der Lage ist, weiter zu blicken und die Zukunft vorauszusehen. Teiresias hat verschiedene Gesichter und Lebensphasen durchlaufen – vom Mann zur Frau, vom Jungen zum Alten, er kennt sich also aus. Sein Symbol wird hier als Kettenanhänger verkauft.

In Sizilien, der Insel der geheimen Absprachen, wird hinter dicht zugezogenen Vorhängen, so vermute ich, auch heute noch die Magie gepflegt. Zu den Orakeltechniken, von denen mir erzählt wurde, gehören zum Beispiel Oliven und Zitronen. In der Zukunftsschau, der sogenannten Divination, ist die heimische Produktion an Feldfrüchten für viele Sizilianer offenbar unverzichtbar.

Man könnte sich von einem Olivenbaum einen Zweig abschneiden. Ob man damit in die Zukunft sehen kann? Keine Ahnung. Hübsch sähe es jedenfalls aus.

So kann man angeblich, wie man mir allen Ernstes erklärt hat, mit einer Olive in die Zukunft sehen. Dazu braucht man einen Ölbaumzweig über der Tür. Prophetische Träume von der nächsten Liebe sind damit quasi garantiert und der nächste annehmbare Mann, der die Schwelle überschreitet, wird dann die Glückliche hinter der Tür auch heiraten. Schon allein diese Mann/Frau-Sache finde ich sowas von Retro. Nun ja, mich erinnert das außerdem ein bisschen an die Mistelzweige, die in der Weihnachtszeit mittlerweile auch in Deutschland über jeder Haustür hängen.

Zitronen gehen auch, wie es heißt. Mit bunten Stecknadeln gespickt kann man sie einem guten Freund oder einer Freundin schenken und zusehen, wie deren Glück sich mehrt. Das wiederum würde ich als Voodoo-Zauber bezeichnen. Man kann das auch für sich selbst machen, dann muss die Zitrone in eine Schachtel. Das Glück, so wollte man mir weismachen, wird dann dauerhaft ins Haus gezogen.

Nun ja, Oliven habe ich persönlich lieber in einem Martini und Zitronen in einem Gin Tonic… Magische Zweckentfremdung würde ich als Lebensmittelverschwendung bezeichnen.

Zitronen 🍋 sind meiner Meinung nach in einem Gin Tonic besser aufgehoben als mit Stecknadeln gespickt in einer Schachtel.

Aber eines würde ich am Vorabend meiner Abreise schon gerne wissen: Wann ich nach Sizilien zurückkehren werde. In den vergangenen drei Jahren kam es nach dem Winter nämlich jedes Mal ganz anders, als ich es geplant hatte. Vielleicht sollte ich doch mal schnell bei Profeta François anrufen. 😉

Casalinga

Putzen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Ich mache es halt, weil es gemacht werden muss. Das ist in Deutschland ebenso wie hier. In Sizilien kommt noch ein anderes Problem dazu: den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.

Meine Aufenthalte sind ja leider nie so lange, dass sich eine richtige Routine entwickeln würde. Eigentlich wäre gleich nach meiner Rückkehr der passende Moment, den Wischmop in die Hand zu nehmen. Denn je nachdem, wie lange ich weg war, hat sich auf alles eine dicke Staubschicht gelegt.

Aber am Anfang gibt es so viel, was meiner Ansicht nach wichtiger ist: ans Meer fahren, mich bei meiner Community zurück melden, Deutschland abschütteln und der eine oder andere Text, der sich in meinem Koffer hierher geschlichen hat, will auch noch geschrieben werden. Das nimmt alles ganz schön Zeit in Anspruch.

Da muss es also genügen, erstmal die Betten frisch zu beziehen und Küche und Bad zu reinigen. Ein bisschen Hygiene muss schon sein.

Leider setzt dann zügig der Gewöhnungseffekt ein. Das, was regelmäßig zu tun ist, zum Beispiel die Böden wischen, Küche und Bad putzen oder Wäsche waschen, wird gemacht.

Aber dass man beim Blick aus dem Fenster durch Sedimentschichten von Schmutz schauen muss, fällt schnell gar nicht mehr auf. Ist ja auch egal, die Läden sind ohnehin die ganze Zeit geschlossen. Entweder weil es draußen zu heiß ist oder regnet.

Wenn ich Rosetta, meine Nachbarin sehe, die regelmäßig ihre Fenster poliert, vor der Haustür fegt und den Staubwedel in der Hand hat, fühle ich mich ganz schäbig. Mich selbst aufraffen kann ich trotzdem nicht: denn entweder ist es zu heiß oder es regnet.

So verstreicht die Zeit. Ist der Zenit meines Hierseins bereits überschritten, macht sich eine weitere Ausrede breit: In den hintersten Ecken zu putzen lohnt sich gar nicht mehr. Vor der Rückkehr nach Deutschland hier noch alles zum Strahlen zu bringen, wer hätte da was davon? Verstaubt ja bis zu meiner Rückkehr ohnehin wieder.

Außerdem muss ich mich noch von meiner Community verabschieden, ans Meer fahren und die gesamte Schönheit Siziliens aufsaugen. Für Haushalt habe ich da einfach keine Zeit.

Da hilft mir meine liebste sizilianische Lebensweisheit: pazienza, Geduld. Der richtige Moment wird schon kommen. Irgendwann…

Da Marcello

Ich habe bei Marcello schon Pizza geholt, da war ich noch eine ganz normale Touristin. 2009 war das, ewig her. Sein Sohn, der mittlerweile die Bestellungen aufnimmt, war damals noch ein kleiner Junge. Und obwohl Marcello irgendwann mal einen Preis für seine Pizza gewonnen hat, so dokumentiert es jedenfalls eine Urkunde, steht seine Frau hinten am Holzofen und ist für die schmackhaften Teigräder zuständig. Marcello sorgt dafür, dass die Lieferungen richtig raus gehen.

Essen kann man in seinem Laden nicht, aber man kann seine Pizza natürlich auch selbst abholen. Man wartet dann entweder innen oder draußen, auf einer kleinen Terrasse. Sonntags dauert es meistens etwas länger, offenbar bin ich nicht die einzige, die zum Ausklang des Wochenendes keine Lust zu kochen hat.

Und wenn ein paar Siciliani zusammen warten, wird natürlich palavert. Dann nehmen sie meistens auch mich in ihren Gesprächskreis auf. Weil ich ja nicht alles verstehe, was die Leute hier so untereinander reden, dazu müsste ich erst einen Kurs in Siciliano machen, ist auch jedes Mal schnell klar, dass ich eine tedesca bin. Deshalb hat mich heute Abend eine Frau gefragt, ob ich hier Ferien mache.

Ich hab ihr erklärt, dass ich zeitweise in Noto wohne. Woraufhin sie gelacht hat. Sie meinte, dass sie selbst schon lange unbedingt weg wolle aus Noto, während ich freiwillig hierher käme. Das konnte sie gar nicht glauben. Sie hat mir noch erzählt, dass sie mal in Norditalien gelebt habe (wahrscheinlich hab ich sie deshalb so gut verstanden), aber jetzt eben wieder in Noto festhängt.

Sie wollte von mir ganz genau wissen, wie es mich hierher verschlagen hat und was ich an Noto und Sizilien so toll finde, dass ich freiwillig einen Teil meines Lebens hier verbringe. Während doch sehr viele Netini einfach hier weg wollen. Vor allem die Jungen.

Ich wusste nicht so recht, was ich ihr da auf die Schnelle erzählen sollte. Für die ganze Geschichte hätte die Wartezeit auf die Pizza ohnehin selbst an einem Sonntag Abend nicht gereicht. Ich bin also ein bisschen im Vagen geblieben.

Meine Gesprächspartnerin hat schließlich eingeräumt, dass es natürlich in Sicilia und speziell in Noto sehr schön sei, il mare, il sole, das ganze touristische Programm eben. Aber Noto sei eben auch sehr tranquilla, stellte sie fest.

Ich interpretiere das so, dass das Leben in der Stadt für die normalen Menschen, für die, die nicht viel Geld haben, sehr ereignisarm und langweilig ist. Wenig bietet, vor allem keine Zukunftsperspektiven. Da nützt es auch nichts, dass jetzt in jedes noch so runtergekommene Haus ein Airbnb reinkommt.

Warum glaubt man eigentlich so oft, dass es woanders besser wäre? Weiter vertiefen konnten wir unser Gespräch jedoch nicht, denn Marcello rief, dass die pizze pronte seien. Die sind auf jeden Fall besser als anderswo. Aber auch das ist sicher Ansichtssache.

Terra di frontiera

So viel Regen wie in Sizilien in diesem Jahr habe ich vermutlich noch nie abgekriegt. Es müssen Hektoliter gewesen sein, die auf mich und die Insel niedergeprasselt sind.

La Sicilia e terra di frontiera per il cambiamento climatico – Sizilien ist beim Klimawandel an vorderster Front. Klingt nicht gut, was Wissenschaftler da sagen. Stürme und vor allem Überschwemmungen setzen der Insel zu. Stürme, die einem Hurrikan so ähnlich sind, dass sie Medicane genannt werden. Alles schon erlebt.

Die Wassermassen, die hier bei einem Gewitter runterkommen, machen aus Straßen im Nu reißende Flüsse und aus Schlaglöchern tiefe Seen. Dauerregen wie vor einem Jahr lässt landwirtschaftliche Anbauflächen absaufen.

Allerorten wird nach Hilfe gerufen, Forderungen werden laut nach Maßnahmen, die Sizilien und seine Menschen schützen sollen. Aber ginge das überhaupt?

So wie im August sind auch jetzt im Oktober wieder an manchen Tagen Wassermassen aus den Wolken gefallen. Das waren keine Starkregen mehr, das waren Sturzfluten. Sciacca an der Südküste hat es offenbar massiv getroffen. Schon wieder. Es ist noch kein Jahr her seit der letzten massiven Überschwemmung dort. Im Internet kursieren Aufnahmen von der zerstörerischen Kraft des Wassers.

Die Sturzfluten kündigen sich mit schwarzen Wolkenwänden an. Dann geht alles ganz schnell.

Ich überlege mir mittlerweile gut, wann ich wohin fahre, denn der Regen kommt hier meist ziemlich plötzlich. Und dann kann es richtig gefährlich werden. Das ist die einzige Möglichkeit, individuell auf die Situation zu reagieren. Alles andere muss man im wahrsten Sinne des Wortes über sich ergehen lassen.

Früher hat mich das ein wenig belustigt, wenn ich in Deutschland italienische Autos gesehen habe, die bei Regen am Straßenrand warten. Ich weiß jetzt, warum sie das machen. Ich mache es hier in Sizilien nämlich auch, wenn mich so eine Sturzflut überrascht. Oft ist es dann gar nicht so leicht, eine passende Stelle zum Abwarten zu finden.

Meistens kommt der Regen mit heftigen Gewittern. Jedesmal fällt dann der Strom aus. Im Haus sitzt man in dem Fall am helllichten Tag im Dunkeln. Manchmal gefühlt ewig. Denn die Fensterläden müssen geschlossen sein, damit das Wasser nicht durch jede Ritze dringen kann. Deshalb stehen bei mir mittlerweile zu jeder Jahreszeit Kerzen auf dem Tisch.

Komischerweise gewöhnt man sich schnell an diese Ausnahmesituationen. Muss man ja, man kann ja nichts dagegen machen. Außer wegbleiben. Das könnte ich durchaus machen. So wie früher die Auswanderer, die hinter sich einfach die Tür abgesperrt haben und nicht mehr zurückgekommen sind. Aber die Menschen, die hier immer leben?

Vielleicht hat hier vor Jahrzehnten einfach jemand hinter sich die Tür abgesperrt und ist nicht wiedergekommen.

Ich merke, wie sich Fatalismus, der mich manchmal in Sizilien so aufregt, auch in mir zunehmend breit macht. Man kann ja eh nichts ändern, denke ich mir dann und hoffe, dass die Unwetter Noto verschonen werden. Nur nicht daran denken, pazienza und die irrationale Hoffnung, dass am Ende schon alles gut ausgehen wird. Vermutlich könnte man anders, mit einer rationaleren Einstellung zu den Problemen, hier gar nicht leben.

Denn Erdbeben gibt es ja auch noch, das darf man nicht vergessen. Die Region Siracusa ist auch da ganz oben bei den am gefährdetsten Gegenden in Sizilien dabei. Ein schweres Beben gab es ja in voller Wucht im Val di Noto schon einmal. Aber ganz ehrlich: Wenn das wieder eintreffen sollte, wäre ich wirklich lieber woanders.

Fuori

Jetzt, wo die Sonne nicht mehr vom Himmel brennt, ist die beste Zeit, sich draußen in der Natur rumzutreiben. Am schönsten ist das im Vendicari, einem Naturschutzgebiet gleich hier in Noto um die Ecke.

Die meisten kommen wegen der Vögel, die hier rasten auf ihrem Weg nach Afrika. Aber ganz ehrlich: mit Vögeln kenne ich mich überhaupt nicht aus. Und aus einem Holzverschlag durch ein Teleobjektiv zu glotzen?

Auch die Tonnara ist ein beliebtes Ziel, hauptsächlich aber für Influencerinnen, die sich hier in dem alten Gemäuer ins beste Licht rücken, bevor sie nach Marzamemi weiterziehen.

Ich laufe lieber ein bisschen durch die Gegend. Etwas Nervenkitzel ist immer dabei, denn jederzeit könnten streunende Hunde um die nächste Ecke schießen. Dann heißt es, einfach nicht hinschauen und bloß nicht stehenbleiben.

Ausgeschilderte Wanderwege gibt es hier im Südosten der Insel meines Wissens nicht, die meisten Pfade enden sowieso vor irgendwelchen Toren.

Zu entdecken gibt es im Herbst die Gaben der Natur: die letzten Mandeln an den Bäumen, die gelben und roten Fichi d’India an den Kakteen setzen bunte Punkte in der herbstlich werdenden Landschaft. Man müsste einen Korb dabei haben, dann könnte man sich den nächsten Einkauf sparen. Aber ob das erlaubt wäre?

Und dann entdecke ich noch weitere Früchte an den Bäumen. Kapernäpfel? Kosten will ich davon nicht, dafür reicht meine Naturkunde nicht. Granatäpfel habe ich leider keine gefunden, die wachsen aber als Verschönerung in einem der unzähligen Kreisverkehre bei Noto.

Außerdem wird jetzt die Olivenernte vorbereitet. Dafür werden Netze um die Bäume gespannt. Natürlich mit einem Mordspalaver, das schon weithin zu hören ist. Hat man wenigstens nicht das Gefühl, ganz allein da draußen in der Wildnis unterwegs zu sein.

Ist man sowieso nicht: Allerlei Tiere haben hier ihr, allerdings eingezäuntes, Revier: Pferde, Rinder, Schafe. Sie grasen friedlich auf dem mittlerweile wieder saftigen Boden.

Nach so einem Tag draußen in der Wildnis bin ich meistens beruhigt: Es gibt sie noch, die scheinbar intakte Natur.

Non lo so!

Es bringt mich jedesmal zum Verzweifeln: die beliebte Standard-Auskunft „Non lo so!“, also „Ich weiß es nicht“, wenn ich etwas suche, etwas nicht finde oder nicht weiß, wie hier in Sizilien etwas funktioniert.

Zum Beispiel im supermercato: Mir war der braune Zucker ausgegangen und ohne braunen Zucker kann ich morgens meinen caffè nicht trinken, weil er dann einfach nicht diese karamellige Note hat. Im kleinen alimentari ein paar Straßen weiter gibt es leider keinen.

Also musste ich ich in den megastore. Da gibt es ja so ziemliche alles, nur ist das Sortiment jedes Mal umgeräumt. Mit meinem deutschen Ordnungsstandard suchte ich deshalb als erstes dort, wo Zucker meiner Meinung nach logischerweise stehen sollte: bei den Backzutaten. Da fand ich zwar allerlei Dinge mit wunderschönen Namen: Lievito Pane degli Angeli, Brot der Engel, was in Deutschland ganz schnöde Backpulver heißt. Oder, genauso schön, zucchero al velo, also Zucker, der sich wie Schleier über das Gebäck legt. Oder weniger lyrisch in tedesco: Puderzucker. Aber ganz normaler Zucker? Fehlanzeige.

Nachdem ich ein paar mal am Regal auf und ab getigert war und meinen Suchradius erfolglos auf den ganzen riesigen Laden ausgedehnt hatte, gab ich es auf. Ich sah ein, dass ich es ohne fremde Hilfe nicht schaffen würde. Also fragte ich eine ältere Frau, die so Küchen-kompetent wirkte, dass sie mir sicher weiterhelfen könnte. Aber sie antwortete einfach nur: „Non lo so.“ So erging es mir noch einige weiter Male. Was ich ja auch verstand, denn den Zucker haben sie in diesem iperstore auch wirklich gut versteckt. Vielleicht ist der in Italien sogar rationiert, fragte ich mich. In Zeiten wie diesen weiß man ja nie…

Nachdem ich aber extra wegen braunen Zuckers überhaupt in den Laden gegangen war und weil ich an meinen nächsten caffè dachte, zündete ich die nächste Rakete: einen Mitarbeiter fragen. Es gab deren genug, in ihrer knallroten Dienstkleidung waren sie außerdem leicht zu erkennen.

Es ist keine Überraschung: „Non lo so“, beschied mir der erste, auch die zweite, an die ich mich mit zunehmender Verzweiflung wandte, hatte keine andere Auskunft parat. Man antwortet mir auch mit einem Achselzucken und mit einem Hinweis auf den Zucker, der sich angeblich bei den erbe, den Gewürzen, befinde. Das stellte sich aber als reines Ablenkungsmanöver heraus.

Mittlerweile leicht gereizt und gefühlt mein halbes Leben in diesem Laden ohne Zucker verbringend, wagte ich einen letzten Anlauf. „Dove si trova il zucchero?“, wollte ich von dem Angestellten wissen. Und tatsächlich, er antwortete nicht: „Non lo so!“ Er hatte als Auskunft die Steigerung von „Non lo so!“ für mich: „Non c‘è!“ Gibt es nicht? Gibt es doch!

Meinen braunen Zucker habe ich dann zufällig doch noch gefunden: beim Kaffee.

Giro di Sicilia

Wo gibt es denn sowas: eine Schutzheilige für Rennradfahrer? In Italien natürlich: die Madonna del Ghisallo. Gefühlt gibt es jedenfalls nirgends so viele Rennradfahrer wie in Sizilien. Jetzt, im Oktober, scheint jedermann auf den Velos mit den dünnen Reifen unterwegs zu sein.

Während in meiner Heimat Deutschland das Fahrrad zu einem profanen Nutzfahrzeug zu werden scheint, für das allerorten eigene Straßen gebaut werden, die neben den eigentlichen Straßen liegen, ist das hier in Sizilien offenbar nicht nötig. Die Rennradpedaleure nehmen sich einfach den Platz, den sie brauchen. Denn sie sind die wahren Könige der Landstraßen.

Ist nur einer unterwegs, was allerdings sehr selten der Fall ist, ist das kein Problem. Ist ein ganzes Peloton auf der Straße, kann es schon mal eng werden. Platz zu machen für ungeduldige Autofahrer ist für die Rennradfahrer offenbar keine Option. Schnell ist man dann unfreiwillig in der Rolle des Begleitfahrzeugs. Vielleicht sollte man immer Wasserflaschen und Energieriegel mit dabei haben, die man den Fahrern aus dem Fenster reichen könnte. Immerhin lässt sich das Tempo der Räder am Tacho ablesen und das ist manchmal gar nicht so langsam.

Autos werden manchmal unfreiwillig zu Begleitfahrzeugen.

Auffällig ist auch, dass Autofahrer viel Geduld mit den Rennradfahrern haben. Während eine zu langsame macchina gnadenlos bedrängt, angehupt und riskant überholt wird, lässt man den Zweirad-Helden alle Zeit und allen Platz der Welt. Auch wenn die aufrecht auf ihren Drahteseln sitzen und nur gemütlich mit dem Nachbarn plaudern oder in ihr telefonino quatschen. Wieder so ein sizilianisches Wunder.

Es muss am Mythos liegen, an den großen Namen. Fausto Coppi kennt immer noch jeder. Marco Pantani ist noch immer der Held, der 1998 die Tour de France gewonnen hat. In Deutschland undenkbar, da wird Jan Ullrich aus den hinlänglich bekannten Gründen nur mit spitzen Fingern angefasst. In Italien hingegen wurde er erst dieser Tage dafür gefeiert, sein Tour-Rad, mit dem er 1998 hinter Pantani Zweiter wurde, der Madonna dagelassen zu haben.

Italien ist eben anders, der Giro, die Räder. Die Rahmen, die kompletten Rennmaschinen, klassisch wie modern, verfügen über eine besondere Optik, die aus kaum begreifbaren Gründen noch schöner wirkt als bei Rädern aus anderen Quellen. Warum? Schwer zu sagen. Ein Herrenanzug aus Mailand sieht ja auch nicht grundlegend anders aus, strahlt aber oft eine besondere Eleganz aus.

Radrennfahrer sind in Sizilien die Könige der Straßen.

Selbst Hobby-Rennradfahrer an sich strahlen in Italien Stil und Grazie aus, selbst wenn sie das exakt gleiche Funktionswäschezeug anhaben und auf dem gleichen Rad sitzen wie Radfahrer, die sonst nördlich der Alpen ihre Runden drehen. Da tuckert man gerne ewig hinter einem Peloton her.

Und weil es eben eine Schutzheilige für die Rennradfahrer gibt, passieren vermutlich trotzdem nicht mehr Unfälle als anderswo. Trotz der prekären Verkehrssituation in Sizilien. Von den grässlichen Schlaglöchern ganz zu schweigen.

Mich wundert nur, dass die Wallfahrtskirche der Madonna del Ghisallo, die 1948 von Papst Pius XII. offiziell zur Schutzpatronin der Radsportler ernannt wurde, nicht irgendwo in Sizilien steht, sondern ganz am anderen Ende Italiens, am Lago di Como. Der Ort Magreglio, vielfach Zielort von Etappen des Giro d’Italia, hat sich seither zum Pilgerort der Radsportgläubigen entwickelt. Wenn ich das nächste Mal mit dem Auto, noch besser mit dem Rennrad, nach Sizilien fahre, wird das auf jeden Fall ein Etappenziel sein!