Der Turm

Sie zählt zu den wichtigsten Bibliotheken Amerikas: die Biblioteca Nacional de la República Argentina. Ein bisschen schäbig wirkt sie von außen, ein bisschen heruntergekommen. Was einfach daran liegt, dass sie bereits zum Zeitpunkt ihres Bezuges wieder sanierungsbedürftig war. Das hat Beton so an sich.

Das Gebäude mit Blick auf den Río de la Plata, im Stile des Brutalismus erbaut, wurde 1972 begonnen und nach 20-jähriger Bauzeit am 10. April 1992 eingeweiht. Die Architekten waren Clorindo Testa, Francisco Bullrich und seine Frau Alicia Cazzaniga de Bullrich. Sie respektierten die Baumschutzvorgabe, möglichst viel von dem Grundstück unbebaut zu lassen, damit nur so wenig alte Bäume wie unbedingt nötig gefällt werden mussten. Deshalb wurde das Erdgeschoss weitgehend freigelassen, die Büchermagazine wurden in drei Kellergeschosse verlegt und der Lesesaal  in den fünften Stock angehoben. Dort können sich die Leser nicht nur in ihre Bücher versenken, sondern einen spekakulären Blick auf den Fluss genießen.

Der Umstand der Sanierungsbedürftigkeit zum Zeitpunkt des Umzuges drückt sich bis heute in Mängeln und immer wieder auftretenden Schäden der Gebäudetechnik aus. Auch die Lage des Gebäudes ist für seinen Zweck etwas problematisch: Weil der Hang zum Río de la Plata abfällt, führt das bei Hochwasser oder starkem Regen dazu, dass der unterste der drei Magazinkeller durch den Anstieg des Grundwasserspiegels gelegentlich teilweise geflutet und dadurch eine dauerhafte Lagerung von Bibliotheksgut in diesem Bereich so gut wie unmöglich gemacht wird.

Die Bibliothek verfügt unter anderem ein Exemplar von „De civitate Dei“ des heiligen Augustinus sowie zwei Exemplare der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri – die werden vermutlich nicht im Keller gelagert. Aber immerhin sind sich die Bibliothekare sicher, dass es sie gibt. Da das in der Nationalbibliothek eingehende Material seit ihrer Gründung nicht einheitlich inventarisiert wurde und zur bibliografischen Verzeichnung im Laufe der Zeit über 70 verschiedene Zettelkataloge und Datenbanken angelegt wurden, lassen sich bei allen anderen Bücher nur schwer konkrete Angaben über den quantitativen Umfang der Bestände machen. Seit Ende Juli 2006 ist bekannt, dass die Anzahl Monografien bei einer Größenordnung von 750000 Bänden liegt.

Aufgrund des nur sehr geringen Erwerbungsetats der Nationalbibliothek kommt der überwiegende Teil des Materials per Tausch und Geschenk, in Form von Nachlässen oder über das argentinische Pflichtexemplarrecht in die Bibliothek, die jedoch nur rund ein Drittel der abzugebenden Publikationen tatsächlich erhält, weil sich viele der Verlage nicht an das Pflichtexemplargesetz halten. Kontrolliert wird die Abgabe durch die Buchhandelskammer selbst, die außerdem die Internationale Sammelbuchnummer (ISBN) festlegt. Deshalb hat die Nationalbibliothek keinen genauen Überblick über die Buchproduktion und kann das Material nicht systematisch einfordern.

Der für viele bedeutendste argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges war von 1955 bis 1973 Direktor der Nationalbibliothek. Er war ab seinem 50. Lebensjahr vollständig erblindet, Gegner Perons und zunächst Anhänger der Militärdiktatur, von der er sich erst spät distanzierte. Bereits 1941 schrieb Borges, die Erzählung „Die Bibliothek von Babel“, eine Spekulation über eine mögliche Welt, die als eine Bibliothek aller möglichen Bücher dargestellt ist. So als hätte er den brutalistischen Neubau der Bibliothek bereits 50 Jahre vorher vorausgesehen.

Bücher sieht man in der Nationalbibliothek indes so gut wie keine. Besuchen kann sie jeder, um in den Lesesaal im fünften Stock zu gelangen, reicht ein Pass. Fotografieren darf man nicht, dafür braucht es eine Genehmigung der Direktion. Aber das wäre jetzt eine weitere Geschichte…

2 Kommentare zu „Der Turm

  1. Ist Brutalismus ein offizieller Architekturstil? Er erklärt sich zwar von selbst, aber gehört hab ich von diesem Begriff noch nie…

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    1. Zufällig bin ich eine Expertin, was Brutalismus angeht, weil das Dinkelsbühler Gymnasium ein architektonisches Beispiel dafür ist und deswegen auch unter Denkmalschutz steht.
      Der Begriff wurde um 1950 von dem schwedischen Architekten Hans Asplund geprägt. Er leitet sich ab von „béton brut“, wörtlich „roher Beton“, dem französischen Ausdruck für Sichtbeton. Gemeint ist das sichtbare Baumaterial, im Besonderen Formbeton mit seinen Unebenheiten und den Abdrücken der Schalung. Weiterhin kennzeichnen die Architektur reine geometrische Körper, die nicht mit einer an andere formale Lösungen angelehnten Formensprache kaschiert werden.

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