„Madame“ raunt es durch die Avenues und den Souk. „Madame“, francaise? English? Deutsch? „Madame“ wispert es in allen Sprachen der westlichen Welt. „Belles yeux“, „you are nice“, „soll ich dir Tunis zeigen?“
„Madame“, fast nicht mehr als ein Flüstern, strapaziert die Nerven. „Madame“, von unverhohlen unverschämten Blicken begleitet, wird zu einem Schimpfwort.
Der selbst gestellte Rechercheauftrag: ein Tag als Frau alleine in Tunis. In der Hauptstadt Tunesiens, eines Landes, in dem Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Verfassung ein wichtiges Thema war. Frauenförderung ist seit Mitte der 1950er Jahre ein Bestandteil der tunesischen Politik. Bereits 1956, nach der Unabhängigkeit, wurden in Tunesien Frauen weitgehend gleichgestellt, sie durften wählen gehen und die Scheidung einreichen. Lediglich das islamische Erbrecht, in dem Söhnen höhere Anteile als Töchtern zustehen, wurde beibehalten. Die neuen Artikel 20 und 45 stellen Männer und Frauen nicht nur vollkommen gleich und garantieren Chancengleichheit, sondern sprechen sich auch dafür aus, dass eine bestimmte Zahl der Sitze in Stadt- und Landräten an Frauen vergeben werden muss. Der ‚Staatsfeminismus‘ wird von tunesischen Frauenbewegungen dennoch kritisiert, da trotz aller staatlichen Bemühungen weiterhin Benachteiligung von Frauen bestehe.
Theoretisch müsste die Recherche bei diesen Voraussetzungen doch ein Kinderspiel sein. Durch die Medina, danach ins Kaffee, abends ein Kebap im Restaurant. Die Recherche müsste doch eigentlich ein Vergnügen sein.
Damit die Entdeckungstour in Tunis nicht vielleicht doch von nicht ganz so modernen Männern beeinträchtigt wird: Ein passendes Outfit aussuchen. Draußen herrscht drückende Schwüle und irgend eine Temperatur jenseits der 35 Grad. Egal. Ein ziemlich weites, langärmeliges, schwarzes Leinenkleid, das sogar die Knie leicht bedeckt, scheint modisch opportun und bei dem Mammutprogramm ist es sowieso besser, die nackte Haut nicht allzu lange der sengenden Sonne auszusetzen. Auch die bequemen Turnschuhe ziehen nicht automatisch Männerblicke an. Perfekt gekleidet also, auf zur Arbeit.
Und da wispert es gleich auf dem Trottoir vor dem Hotel: „Madame…“
Vielleicht also doch erst mal einen Kaffee, ein bisschen Leute beobachten. „Madame“ raunt es an den Tischen. Der Kellner verbindet mit „Madame“ zumindest die Frage, was diese wünsche. Also Kaffee und schnell runter damit, das Aufsehen soll nicht noch größer werden und irgendwie fühlt es sich falsch an, zwischen all den Männer und einigen Frauengrüppchen jemandem den Platz zu stehlen. So ganz alleine einen Tisch für eine Frau, das geht ja irgendwie gar nicht. Also schnell zahlen und weiter.
Nach diesem Aufwärmprogramm in der Neustadt hinein in den Souk. In die Höhle des Löwen. Immerhin ist es hier kühler. Dicht gedrängt Läden, Stände, Menschen, quirliges Gewusel, laute Stimmen. Und trotzdem: „Madame“, ganz dezent, wispert es auch hier. „Madame, nur schauen, nicht kaufen.“ Madame kommt sich dabei selbst wie ausgestellt vor.
Einen kühlenden Minztee, der so verlockend umhergetragen wird auf hübsch ziselierten Silbertabletts, danach sehnt sich Madame. Aber sich in dieser Männerwelt in eines der Kaffees zu setzen: Nein, so groß ist der Durst ja eigentlich gar nicht.
In den hübschen Wohnvierteln der Altstadt gib es viel zu sehen und es sind dort auch nicht die Menschenmassen unterwegs, so wie im Souk. Zeit durchzuschnaufen, sich ein wenig treiben lassen, in Ruhe stehen bleiben und die Details betrachten. Und schon raunt es plötzlich wie aus dem Nichts: „Madame“. Hassan, so sein Name, 64, natürlich hat auch er in Deutschland gelebt und spricht die Sprache leidlich. Er wohne hier gleich um die Ecke. Sein Viertel sei das schönste in ganz Tunis, in ganz Tunesien, in ganz Afrika, ach was, in der ganzen Welt. Und gleich ums Eck, da sind ganz wunderbare Kleinode. Ach, er geht schnell mit, meint Hassan, und zeigt „Madame“ wo es lang geht.
Dabei erzählt er, von Deutschland, wo er in Köln gelebt hat. Aber Köln, das ist für ihn jetzt irgendwie gestorben, seit der Sache mit den Syrern, wie er sagt. Dabei stammten die rund 1000 Männer, die in der Silvesternacht 2015 Frauen sexuell bedrängt haben, hauptsächlich aus dem nordfrikanischen und arabischen Raum, wie ermittelt wurde. Aber diskuiert Madame das mit einem 64-jährigen Tunesier in der Medina? Lieber nicht.
Statt dessen hört sich „Madame“ weiter Hassans Auslassungen an: Dass er auf Djerba im Hotel gearbeitet hat. Den Diener, die Verbeugung, macht er jedes Mal, wenn Türen Sesam-öffne-dich-gleich Blicke frei geben auf ein Kulturzentrum, einen Literatentreff und auch den Platz, auf dem Berlusconi – zu Fuß! – seinen Corso gedreht haben soll. Da wird Hassan dann vollends unympathisch. Wer schwärmt schon von Berlusconi? Aber trotz seiner inakzeptablen Meinungen: Was Hassan von seinem Viertel zeigt, ist trotzdem schön.
„Madame“, meint er dann plötzlich, als die auf seine Einlassung zunehmend genervt reagiert, weil sie den alten Mann einfach nicht mehr abschütteln kann, jetzt sei die Führung zu Ende. Gut, dass er einen Obolus bekommen soll, ist schon klar. Den will er am liebsten in Euro, hat Madame aber nicht dabei. Dann also Dinar. Die zwei Euro, die ihm so vorschwebten, die rechnet er für „Madame“ mal vorsichtshalber um. 70 Dinar schweben ihm vor, oder, nachdem er Madames entsetzten Blick gesehen hat, auch 60 wären noch ok. Gerade so. 25 Euro wären das beim aktuellen Umrechnungskurs. Da hat Madame aber wirklich die Nase voll. 10 Dinar gibt sie ihm, dafür erhält sie einige Flüche, als Hassan glücklicherweise wie ein böser Geist wieder in der Flasche verschwindet, aus der er plötzlich aufgetaucht war.
Jetzt reicht es Madame aber wirklich. Also alles auf Durchzug, mürrisches Gesicht machen, stoisch blicken. Hilft aber alles nichts. „Madame“ umweht Madame auch weiterhin auf Schritt und Tritt. Aber immerhin: Die Urheber des Wisperns und Raunens geben sich gar keine Mühe mehr, ihren „Madame“-Reflex weiter zu untermalen mit falschen Komplimenten oder schmierigen Blicken.
Verschleierte Frauen wissen vom Klang der „Madame“ nichts. Sie sind aber ohnehin kaum alleine unterwegs. Auch westlich gekleidete Tunesierinnen, auch sie meist in der Gruppe unterwegs, bleiben unbehelligt. Der westlichen Besucherin bleibt indes von Tunis auch die Respektlosigkeit in Erinnerung.
Gleichgültig, welchen Glaubens, Frauen haben das Recht, und zwar überall, sich auch alleine am helllichten Tag frei und ungezwungen zu bewegen, ohne sich vorher überlegen zu müssen, wie sie sich vor so dumpfer Anmache schützen können.