Marrakesch. Kurz nach der Dämmerung die ersten Schritte im Patio. Der Ruf eines Muezzins. Die vergitterten Fenster des Zimmers zeichnen ein weiches Licht auf die Wände. Ein Bett, ein Sessel, eine Truhe, Wandschränke: All das sind Möbel, die bereits ein Leben vor diesem Zimmer hinter sich hatten. Das vermittelt eine Ahnung von Zeit und deren Verlauf. Jetzt wäre es gut, die große Flügeltür des Zimmers zum Innenof hin zu öffnen, besser aber nicht bewegen, nur die hohe Decke betrachten.
Das Zimmer ist in einem Riad, wie die Häuser hier heißen. Dieser hier liegt am Anfang einer Sackgasse im roten Zentrum der Stadt. Es gibt draußen keine Wegweiser, keine Schilder am Eingang, nur ein grünes Banner, das die Richtung weist. Sein dunkles Tor wirkt, als sei es das Ende und der Beginn einer Welt. Von hier sind es nur ein paar Gehminuten zum Platz Djemaa el Fna.
Hier sein, mit Körper und Geist eins sein mit dem Augenblick, Einssein mit dem Jetzt. Das muss es sein.
Marrakesch ist ist die Trennung von Innen und Außen. Das Riad ist bestes Beispiel dafür. Seine Abgeschirmtheit, von der in jedem Reiseführer zu lesen ist, hat etwas mit der Hitze zu tun, die durch die dicken Mauern abgehalten und durch einen Brunnen im Patio gemildert wird. Hat auch etwas mit Privatheit zu tun, Trennung des öffentlichen Lebens von dem der Familie. Die Frauen können hier ungezwungen sein. Auch deshalb sind die Fenster nach außen klein oder gar nicht vorhanden, nach innen hingegen groß, und wenn alle Türen geöffnet sind, gehen die Räume in das Patio über, verbindet sich der Innenhof mit der Üppigkeit der Zimmer, Innen und Außen werden ein Rhythmus, zum fließenden Übergang.
Muße. macht es möglich, dem Außen der Stadt nicht nur standzuhalten, sondern nach kurzer Eingewöhnung auch darin zu sein, unagestrengt. Draußen tobt das Leben: in den Souks. 30000 Händler und Handwerker sollen es sein, die hier feilbieten, schön sortiert: Lebensmittel, Gewürze, Obst und Gemüse, Leder, Keramik, Holz, Schuhe, Schneider, natürlich Teppiche und alles andere auch. Je tiefer man in die Gassen dringt, desto weniger Ramsch und Touristen gibt es.
Doch so eng es ist, so fließend sind die Bewegungen der Mopedfahrer, Einkäufer, Verkäufer, Lieferanten mit Eselskarren. Sowenig, wie die Abgeschiedenheit im Riad etwas mit vertaner Zeit zu tun hat, so wenig hat die Geschäftigkeit in den Souks etwas mit bloßer Hektik zu tun. Hat seine Ordnung, fügt sich nahtlos ineinander bis hin zu den Mopeds. Man kann sich in den Souks verlaufen, doch ohne Folgen. Nur nach „dem Platz“ fragen, und der kürzeste Weg wird gezeigt.
Sich herauszuhalten, nur zuzuschauen, unmöglich: Alles sticht ins Auge, ob es die weißen Gewänder der Musikanten sind, die bunten der Wasserverkäufer, die blauen der Tänzer. Die Orangenpyramiden sind der einzige Fixpunkt in diesem Sog der Sinne.
Geschichtenerzähler, Lotteriespiele, Boxkämpfe inmitten einer Menschenmenge. Zwischen allem bewegen sich Touristen und Marrakeschi wie verschlungene Arabesken. Djemaa el Fna, Platz der Geköpften, der Gehenkten, der Gaukler: Es ist, als verwebten sich in diesem Durcheinander Gegenwart und Vergangenheit, Fremdes und Wiedererkennen miteinander. Von den Dachterrassen aus ist jetzt in der Ferne noch ein Streif samtblauer Himmel über den schneebedeckten Hügeln des Atlasgebirges zu sehen, dahinter liegt die Wüste, auch ein Sehnsuchtsort.
