Gesichter in einer Menschenmenge

„Die Vergangenheit umgibt uns wie Gesichter in einer Menschenmenge“, schreibt John Irving in seinem Roman „Straße der Wunder“. Diese Gesichter sind da, aber nicht greifbar. Wir können sie anschauen, wir können den Blick davor senken, wir können gar wegsehen. Und doch sind diese Gesichter um uns und blicken uns ihrerseits an.

Sizilien ist mit seiner Jahrtausende alten Vergangenheit voller Gesichter. Viele verschiedene Gesichter aus aller Herren Länder haben sich auf dieser Insel zu einer unüberschaubaren Menschenmenge angesammelt. Könnten diese Gesichter sprechen, so würden sie wild durcheinander und in vielen Sprachen von Kriegen erzählen, von Tragödien, von Schönheit und Kultur. Von Armut und Kargheit, von überschwenglicher Pracht. So reich an Facetten wie diese Geschichten ist auch das Antlitz dieses Eilands selbst: von Sonne durchflutet, vom Meer umwogt und vom Wind umtost. Zerklüftete hohe Berge, liebliche Ebenen, unruhige Platten unter der fruchtbaren Erde und über allem der 3300 Meter hohe Ätna, der Vulkan, der niemals schläft. Die Schönheit Taorminas liegt unmittelbar neben der Hölle von Randazzo, meint Lampedusa in seinem „Gattopardo“.

Sizilien bietet seit Menschengedenken eine große Bühne für die großen und die kleinen Dramen, für die Mächtigen und die Unwichtigen. Im Theater von Syrakus wurden die die Stücke der antiken Griechen uraufgeführt. Ganz in der Nähe der Ausgrabungstätte fahren die Busse hinaus nach Arinella und Fontane Bianche. In diesen Orten baden die Städter im Sommer, auch jetzt im Frühling treffen sich hier Menschen, es sind aber nur wenige, die in der Strandbar mittags einen Caffé trinken.

Vor der „Tortuga“-Bar in Fontane Bianche halten die Busse. Von dort führt ein Weg hinunter zum Meer. Unvergesslich bleibt der Duft, den die üppigen Pflanzen hinter den Mauern entlang des Pfades verströmen. Jasmin ist dabei und manch andere schwüle Note, die dieser recht profanen Gasse etwas Entrücktes verleihen. Im kleinen Brunnen an der Stelle, wo der Weg einen Linksknick macht, wächst unverwüstlich Papyrus, der außerhalb Ägyptens angeblich nur rund um Syrakus gedeiht. Hinter dem Metallzaun bellen zwei weiße Hunde und lenken den Blick auf ein Haus, das mit seinen bunten Kacheln eine Ahnung von den Städten im nicht mehr allzu weit entfernten Afrika gibt. Hühner scharren hinter dem Gebäude gackernd im Gras. Und dann der erste Blick auf das türkisblaue Ionische Meer, die malerische Bucht.

Fontane Bianche

Fast bis ans Wasser reichen die prächtigen Sommerresidenzen. „Eleonara love me“ steht an eine Mauer gesprüht, die die Häuser vom weißen Sandstrand trennt. Seit vielen Jahren schon ist diese Tatsache hier zu lesen. Unveränderlich scheint sie zu sein, nie hat sie jemand übertüncht, und auch die Grammatik hat niemand verbessert. Wer sie dort verewigt hat und ob sie wirklich heute noch richtig ist, bleibt unbeantwortet.

Eleonora

Im feinen weißen Sand von Fontane Bianche ließe es sich noch gut ein bisschen träumen von den vielen Gesichtern in der Menschenmenge namens Vergangenheit. Aber der letzte Bus an diesem Tag zurück nach Syrakus wartet nicht.

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