Semper est tempus: veritatem dies aperit! – Man muss immer Zeit lassen: der Tag bringt die Wahrheit ans Licht! (Seneca)
2001 kam ich das erste Mal nach Syrakus. Damals gab es im Hafenbecken nur eine Brücke, um auf die Ortigia, in die auf einer Insel gelegenen Altstadt, zu gelangen, die Ponte Umbertino. Im Hauptpostamt an der Riva della Posta konnte man damals noch Briefmarken kaufen und von dort fuhren auch die Überlandbusse ab. Damals war Syrakus meine Endstation auf diesem Road-Trip durch Sizilien. Ich wollte eigentlich noch weiter nach Ragusa. „Dorthin gibt es keine Züge“, sagte mein Begleiter. Ich glaubte ihm. Also blieben wir eine Woche lang in dieser Stadt, von der ich als Kind dachte, sie liege in Griechenland. Syrakus, besser gesagt „Spaziergang nach Syrakus“ von Johann Gottfried Seume, war eines der Bücher im Regal meines Vaters und es übte auf mich eine magische Anziehung aus. Ebenso wie die Stadt Ragusa, von der er manchmal erzählte, obwohl er nie dort war. Dass diese Orte auf einer Insel im Mittelmeer liegen, wusste ich als Kind nicht, aber sie blieben mir im Gedächtnis. Als ich in Syrakus das erste Mal aus dem Zug stieg, wusste ich noch nicht, dass Syrakus keine Endstation ist.
Wir kamen auf Sizilien mit der Fähre aus Genua an und erreichten Palermo mit den gleichen Eindrücken, die vermutlich auch schon Goethe auf seiner Italienischen Reise überwältigt hatten. Es war unglaublich heiß, Palermo wirkte exotisch, gefährlich, inspirierend. Noch keine zehn Jahre waren damals seit der Ermordung von Borsellino und Falcone durch die Mafia vergangen. Am nächsten Tag ging es weiter mit der Eisenbahn nach Cefalù, danach Taormina, der Ätna. Der in diesem fernen Jahr so aktive Ätna war Inspiration, Sizilien zu bereisen. Eine Art Naturgewalt gewordene Metapher. Und schließlich, nach einer Woche, die Endstation Syrakus. Das fremde Gefühl, das Ziel aller Wege erreicht zu haben.
Wir logierten zunächst in einem Hotel in Bahnofsnähe, in der Via Francesco Crispi mit dem Namen eines altgriechischen Philosophen, ich weiß ihn nicht mehr genau. Es war ein grauenhaftes Zimmer, zum Hinterhof. Das Badezimmer – größer als das eigentliche Zimmer – zu betreten, kostete Überwindung. Das Frühstück bestand aus in Plastik eingeschweißtem Zwieback mit Marmelade von der Konsistenz von Pech. Wir waren die einzigen Gäste, abgesehen von einem allein speisenden Mann. Ich wollte dort nicht bleiben. Mein Begleiter versprach, nach einer anderen Unterkunft zu suchen, ich blieb mit dem Gepäck in einem kleinen Park am Beginn des Corso Umberto zurück. „Es gibt hier keine anderen Unterkünfte“, meinte er, als er später zurück kam. Wir wechselten dann in das Hotel auf der anderen Straßenseite, das ebenfalls den Namen eines griechischen Philosophen trug. Es war keinen Deut besser. Die Unterkunft gibt es noch heute, „LOL Hostel“ heißt es jetzt ganz profan und bietet günstige Zimmer für Backpacker.
Von diesem Hotel aus starteten wir jeden Tag unsere Entdeckungstouren. Sie begannen stets in der Bar Marconi, wo ich meinen ersten caffè macchiato trank, mit nichts zu vergleichen, schon gar nicht mit dem Milchschaum-Overkill in Latte Macchiato, wie er nördlich der Alpen serviert wird. Er schmeckt in der unscheibaren Bar heute noch so gut wie damals. In der Mitte der Piazza Marconi spukt eine Brunnenanlage fragwürdiges Wasser aus, immer noch, nur dass man sich jetzt in der Hitze für ein bisschen Abkühlung nicht mehr rein stellen kann. Die Absperrungen sind neu.
Auch die Kioske mit Zeitschriften und raubkopierten CDs im Schatten des kleinen Parks Giardini pubblici del Foro Siracusano sind noch immer da. „Wer braucht in Zeiten von Apple Music so etwas überhaupt noch?“, frage ich mich. Entlang des Corso Umberto hat sich ebenfalls nicht viel verändert. Die Häuser bröckeln weiter, nur die Geschäfte und Bars versuchen in stetem Wechsel mit dem 21. Jahrhundert Schritt zu halten. Am Hafenbecken gibt es jetzt eine zweite Brücke zur Ortigia, die Ponte Santa Lucia, der Stadtheiligen gewidmet, deshalb ist auf dem Corso Umberto Verkehr nur noch in eine Richtung möglich.
Dort von der Brücke aus sieht man das ehemalige Hauptpostamt, das lange Zeit leer stand und nun seit ein paar Jahren umgebaut wird. Ein Luxushotel soll es werden. Die Banner, die das verkünden, sind aber längst wieder verschwunden.
Der Corso stößt an seinem Ende auf die Überreste des Apollo-Tempels, dem ältesten größeren Apollo-Tempel Siziliens. In seinem einstigen Schatten gibt es noch heute einen lebhaften Markt, den Antico Mercato di Ortigia. Vom griechischen Tempel führt der Weg hinein in die schmalen Gassen der Ortigia, der Wachtelinsel, die selbst im Hochsommer kaum Sonnenlicht auf das Pflaster dringen lassen. Verirren kann man sich hier nicht, denn alle Wege führen auf die Piazza Duomo, den, wie ich meine, schönsten Platz der Welt. Als ich zum ersten Mal in Syrakus war, gab es die mystische Aura des Doms noch ohne Eintrittsgeld. Das mächtige Gotteshaus fußt auf einem Tempel der Athene, dessen 2500 Jahre alte Säulen immer noch stehen, eingebaut, doch sichtbar zwischen mächtigen Mauern. Dorische Säulen, denen selbst das Erdbeben von 1693 nichts anhaben konnte. Säulen, die auf einer noch 300 Jahre älteren Kultstätte der Sikuler stehen. Hier wohnen die Götter schon lange.
734 v. Chr. gründeten griechische Siedler aus Korinth auf der Insel Ortygia die Stadt Syrakusai, die sich rasch auf das Festland ausdehnte und zur größten und mächtigsten Stadt des antiken Siziliens entwickelte. Unter der Herrschaft von Tyrannen gelang es mehrere Jahrhunderte, sich den Angriffen fremder Eroberer zu widersetzen und die eigene Vormachtstellung auszubauen. Auch wissenschaftlich und kulturell spielte Syrakus eine bedeutende Rolle. Dichter wie Aischylos, Pindar, Bakchylides und Simonides versammelten sich am Hof der Stadt. Platon lehrte hier Philosophie und Archimedes entwickelte Kriegsmaschinen zur Verteidigung der Stadt. Erst 212 v. Chr. gelang es den Römern, Syrakus einzunehmen. Bei der nachfolgenden Plünderung kam auch Archimedes ums Leben. Er gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker der Antike, bis heute für jeden Mathematik geplagten Schüler ein Begriff. Über die Todesumstände referiert Plutarch, Aristotels sei mit einem mathematischen Beweis beschäftigt gewesen und habe einen beim Plündern der Stadt eindringenden Soldaten aufgefordert, ihn nicht zu stören, worauf der ihn erschlug. Sprichwörtlich wurden die Worte Noli turbare circulos meos ( „Störe meine Kreise nicht“), die Archimedes dabei gesprochen haben soll.
Am Foro Vittorio Emmanuele im geschützten Naturhafen, liegen heute Luxusjachten, man gönnt sich ja sonst nichts. Aus den vielen neuen Bars, die hier entstanden sind, klingt die immer gleiche öde Lounge-Musik. Das gab es vor 16 Jahren zum Glück noch nicht. Damals war noch allerorten der morbide Charme Siziliens spürbar. Die Altstadt drohte nach dem Zweiten Weltkrieg zu verfallen. Viele Bewohner zogen in die modernen Wohnviertel auf dem Festland um. Durch umfangreiche Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten von 1990 an wurde sie wieder aufgewertet und belebt. Syrakus ist mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe. Dieser Aufbau drückt sich heute in hippen Läden, trendigen Restaurants und vielen Touristen aus.
Vom Foro gelangt man in einen kleinen Park, in dem riesige Gummibäume wachsen. Still ist es hier. Noch ebenso still wie am Anfang des Jahrtausends und vermutlich seit Jahrhunderten. Die Wurzeln der mächtigen Bäume haben sich verschlungen und wirken wie Skulpturen eines namenlosen Bildhauers.
Syrakus ist heute zwar nicht mehr Heimat für eine Million Menschen, die es in der Antike gewesen sein sollen, sondern lediglich noch für etwas über 100000. Sie aber leben auf einem geschichtsträchtigen Boden, in einer Schaustätte für Tragödien, wahren und fiktiven. Im Parco Archeologico della Neapoli steht das Teatro Greco, welches im 6. Jahrhundert v. Chr. erbaut und 300 Jahre später erweitert wurde. Mit einem Durchmesser von 138 Metern und Platz für 15 000 Zuschauer ist es eines der größten griechischen Theater überhaupt. Uraufführungen der großen antiken Tragödien fanden hier statt, an deren Ende unweigerlich die Katharsis steht. Ein tröstlicher Gedanke, dass es eine solche seelische Reinigung geben kann. Von den 60 in den Fels geschlagenen Sitzreihen sind noch 42 erhalten. Jedes Jahr finden hier im Sommer Theateraufführungen statt. Immer ausverkauft, obwohl in Altgriechisch. Meine Geschichte, die mich Syrakus verbindet, wirkt vor dieser Kulisse wie ein winziges Staubkorn, wie ein Atom. Es hat sich auf die mächtigen antiken Trümmer gelegt und dort ruht es gut.
Vieles hat sich verändert, seitdem ich 2001 das erste Mal in Syrakus gewesen bin, die Stadt passt sich dem vernetzten 21. Jahrhundert zunehmend an. Nicht aber der turbulente Verkehr, der die hupenden Autos in die Stadt spült. Kreisverkehre die jede Form haben, nur nicht die eines Kreises, sollen Ordnung in dieses Chaos bringen. Wer hier auf Einhaltung von Verkehrsregeln hofft, hofft vergebens. Sich besser in blindem Vertrauen hineinwagen in diese Turbulenzen. Was hilft: Mitfließen in diesem steten Strom und sich unversehrt wieder ans sichere Ufer spülen lassen.