36 Stunden

 

Ich war schon einmal hier, kurz nach meinem Abitur, das ist so lange her, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Ich erinnere mich an chaotische, vollgestopfte Straßen. An wilde Hupkonzerte, lebensgefährliche Versuche, als Fußgänger auf die andere Seite zu gelangen. An die Ignoranz allen Verkehrszeichen gegenüber. Daran hat sich nichts geändert. Immer noch wilde Hupkonzerte, weiter waghalsige Versuche, die mehrspurigen Straßen unbeschadet zu überqueren. Überall Menschenmengen. Ich habe ein kleines Apartment in der Nähe des Bahnhofs Napoli Centrale gemietet, das ich zuerst nicht finde. Mir steckt noch die Highspeed-Bahnfahrt in den Knochen, als ich hier ankomme. Beladen mit meinem Gepäck gehe ich die Piazza Garibaldi entlang. Ob die noch im Umbau ist oder ob die Tristesse gewollt ist, erschließt sich mir nicht. Hier gibt es keine Sitzgelegenheiten, kein Grün, ein Zeltdach hält den Regen ab. Darunter eine Gruppe asiatischer Frauen, die Tai Chi oder Qi Gong machen, ich kann das nicht unterscheiden. Im dritten Stock eines eindrucksvollen Gebäudes in der Via Alessandro Poerio finde ich die Unterkunft.

Der Blick aus dem Fenster zeigt mir am nächsten Morgen, dass ich den Hinterhof getroffen habe. Sechs Stockwerke hat das Gebäude, manche Wohnungen sehen verlassen aus, manche bewohnt. Minütlich donnert ein Flugzeug über die Szenerie.

Also raus ins neapolitanische Leben. Die Entscheidung, die Stadt zu Fuß oder mit der Metro zu erkunden, stellt sich bei 3,50 Euro für ein Tagesticket nicht. Metro also, auch weil dies mein Trip mit dem Zug sein soll. Außerdem wurde die Linie 1 von Künstlern gestaltet, das will ich sehen. An der Station Toledo steige ich aus. Vier Stockwerke im Untergrund fährt der Zug und der Weg zurück auf die Oberfläche gleicht einer unwirklichen Fahrt mit der Rolltreppe. Der Bahnhof zählt zu den schönsten Europas, das ist er in der Tat, aber irgendwie passt er nicht zu meinem Bild von Napoli.

Ich erinnere mich zurück an das Jahr 1985, als ich mich als frisch gebackene Abiturientin auf den Weg nach Italien gemacht hatte. Ich wollte Freunde treffen, die schon länger dort waren, in Sorrento. Weil sie alles schon gesehen hatten, als ich ankam, sah ich mich alleine um in Napoli. Ausgerüstet mit meiner alten Konica-Kamera und vielen Ambitionen streifte ich umher auf der Suche nach dem perfekten Bild. Möglichst autentisch sollte es sein und deshalb spazierte ich unbekümmert durch die Quartieri Spagnoli. Es war faszinierend, überall flatterte Wäsche über den Straßen, viel Geschrei war zu hören. Ich scheute nicht den Blick hinein in die Hinterhöfe, ich wagte mich sogar hinein. Und dort war auch eines meiner Motive: Briefkästen. Während ich Blende und Verschlusszeit einstellte, traf mich wie aus dem Nichts ein Wortgewitter und der böse Blick einer Neapolitanerin. Ich verstand kaum etwas, nur so viel, dass es etwas mit der Tragödie im Brüsseler Heysel-Stadion zu tun haben musste. Kurz zuvor, Am 29. Mai 1985, wurde dieses Stadion vor dem Landesmeister- Finale zwischen Juventus und dem FC Liverpool zum Schauplatz der schlimmsten Katastrophe des europäischen Fußballs. Ein Fußballfest geriet zum Alptraum, zu einem Massaker, bei dem 32 italienische Juve-Fans, vier Belgier, zwei Franzosen und ein Ire starben. Mehr als 400 weitere Menschen wurden verletzt, eine Generation blieb traumatisiert. Verantwortlich für die Tragödie waren englische Hooligans, die belgische Polizei und Funktionäre des europäischen Fußball-Verbandes Uefa. Diese Neapolitanerin lud, als sie mich in ihrem Hof ihre Briefkästen knipsen sah, ihre ganze Wut und Trauer auf mir ab. Dieses Erlebnis hat sich mir eingebrannt und ich denke jedes Mal daran, wenn ich auf der Suche nach dem idealen Bild kleine Grenzüberschreitungen begehe.8_Padre Pio KopieDieses Napoli von damals hat sich in mir festgesetzt und ich bin 35 Jahre später fasziniert, dass es an vielen Ecken noch so ist, wie ich es erinnere. Die Quartieri Spagnoli haben den Wandel scheinbar unbeschadet überstanden oder vielleicht ist ihnen der Schritt ins neue Jahrtausend auch einfach nicht gelungen. Aus der Perspektive des Reisenden ist oft schwer zu unterscheiden, ob das ein Fluch oder ein Segen für die Menschen ist. Eng und verwinkelt sind die Quartieri Spagnoli natürlich auch heute noch. Die Gassen sind steil, an manchen Stellen so steil, dass ein Spaziergang anmutet wie eine veritable Bergbesteigung. In diesem Dickicht glaubt man, sich leicht zu verlaufen, die Übersicht zu verlieren, die Orientierung und die Unbeschwertheit. Was aber gar nicht stimmt, denn bergab stößt man immer auf die Via Toledo, die eine Fußgängerzone ist. Doch das Gefühl, sich zu verlieren ist unerlässlich, um auf die Besonderheiten aufmerksam zu werden. Auf die über den Gassen flatternde Wäsche, die Wimpel des SSC Napoli, die Farben und Gerüche, auf die eigene Schönheit dieses Viertels, in der die Armut noch heute ebenso groß ist wie die Schulabbruchsquote, die höchste in der Stadt.6_Pescheria KopieDabei erlebt Napoli gerade eine Wiederauferstehung. Die Aurorin Elena Ferrante hat diesen herbeigeschrieben mit ihrer neapolitanischen Saga. Aus kritischer Warte verfolgt sie über Jahrzehnte die Zeitläufe der Stadt und des Landes, Camorra und Elend, Politik, Terrorismus und Korruption. So entsteht ein historisches Panorama eines Landes in der Klemme, das anarchisch und anachronistisch im Weltgeschehen trudelt. Die Romanhandlung endet nicht zufällig 2010, kurz bevor das Land mit Volldampf in die Krise steuerte.2_Salumeria KopieEine Salumeria ist einer der von Ferrante beschriebenen Schauplätze, ein Wurstladen. Vielleicht stand ihr die Salumeria Russo in der Pignasecca Pate. Diese lange Gasse ist ein riesiger Basar, ein lauter, bunter Markt, auf dem alle ihre Waren direkt auf der Straße auslegen. Nur vor der Salumeria liegt nichts aus. Dafür stapelt sich in dem kleinen Ladensgeschäft scheinbar alles, wofür es in Deutschland riesige stylische Supermärkte braucht. Es heißt, dass der Inhaber, Salvatore Russo, zu denjenigen zählt, die in Napoli zähen Widerstand leisten gegen die organisierte Kriminalität, ausgerechnet hier im Montesanto, dem Hauptquartier der Camorra. Russo zahlt keinen Pizzo, seine Salumeria gehört zum Verein Addiopizzo. Das Salamibrötchen, das mir Salvatore Russo verkauft, schmeckt mir mit diesem Wissen umso besser.

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