Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; / Im Tale grünet Hoffnungs-Glück; / Der alte Winter, in seiner Schwäche, / Zog sich in rauhe Berge zurück.
Goethe, Faust I
Mir kommt nach einem langen, grauen und nasskalten Winter in Deutschland am ersten schönen Frühlingstag meist dieses Goethe-Zitat in den Sinn. Wenn es die Menschen rauszieht aus ihren Häusern, wenn die Parks überquellen und sich vor den Eisdielen lange Schlangen bilden. Ich dachte, das sei etwas typisch Deutsches, zumindest etwas Mitteleuropäisches. Ist es nicht, wie sich heute in Sizilien gezeigt hat.
Ich bin also zurück. Zum ersten Mal seit der Pandemie wieder zeitig im Jahr. Fast hatte ich schon vergessen, wie schön der Frühling in Sizilien ist. Überall blüht es, die Zitrusbäume brechen schier unter ihrer strahlend gelb und orangenen Last.
Wie immer, wenn am Haus die kleinen Wunden, die es in meiner Abwesenheit erlitten hat, verarztet sind und alle Nachbarn in der Gasse gebührend begrüßt wurden, führt mich mein erster Weg ans Meer. Am Strand von Lido di Noto sind allerdings noch deutliche Spuren der Stürme zu sehen, die im Winter der Insel zugesetzt haben.

Aber Corrado ist schon da. An seinem Granità-Wagen bilden sich Menschentrauben.
Nebenan, in Calabernardo, scheint der komplette Strand weggespült worden zu sein. Statt des Sandes hat es Plastikmüll angespült, zwischen dem ein einsamer Vogel stakst.

Mal schauen, wie es in der Nachbarstadt Avola aussieht. Keine sechs Kilometer weiter ist entweder alles bereits wieder weggeräumt oder aber der Sturm war hier nicht so schlimm. Die Strandpromenade ist ebenso bevölkert wie der Strand und die nahen Bars. Erste Wagemutige nehmen bereits ein Sonnenbad, etwas Zaghaftere wollen von ihren Daunenmänteln noch nicht lassen, trotz der gefühlt 30 Grad Celsius.

Aber egal ob in dicker Winterjacke oder in der Badehose: Bei allen ist ein Aufatmen zu spüren. Erleichterung, dass der Winter sich in rauhe Berge zurückgezogen hat. Vorfreude auf die kommenden hellen Monate, die längeren Tage und kürzeren Nächte. Das Glück über das Frühlingserwachen ist scheinbar unabhängig vom Breitengrad.