Die Welt zu Gast bei Folterknechten

Sonntag, 25. Juni 1978, im Estadio Monumental: Argentinien wird mit 3:1 nach Verlängerung gegen Holland Fußball-Weltmeister. Nur einen Steinwurf entfernt, in einem schmucken Gebäudekomplex am nördlichen Ende der belebten Avenida del Libertador, in dem die Militärakademie (ESMA) untergebracht ist, werden zur gleichen Zeit Menschen gefoltert.

Auf die umstrittene Weltmeisterschaft 1978, deren Endspiel in unmittelbarer Nachbarschaft zur ESMA stattfand, wird auch in der Gedenkstätte eingegangen.
Auf die umstrittene Weltmeisterschaft 1978, deren Endspiel in unmittelbarer Nachbarschaft zur ESMA stattfand, wird auch in der Gedenkstätte eingegangen.

Die Escuela de Mecánica de la Armada, früher Escuela Superior de Mecánica de la Armada (ESMA), eine Ausbildungseinrichtung der argentinischen Marine, war während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 gleichzeitig ein Geheimgefängnis und das größte Folterzentrum des Landes. Etwa 5000 Menschen wurden hier gefoltert und anschließend überwiegend ermordet, hauptsächlich tatsächliche und vermeintliche politische Gegner des Regimes. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sollen nur rund 200 der Inhaftierten die Gefangenschaft überlebt haben.

Die ESMA unterstand dem Oberbefehlshaber der Marine und Mitglied der Junta Admiral Emilio Massera, der als einer der Hauptverantwortlichen für die Durchführung des „schmutzigen Kriegs“ galt. Zwei der berüchtigtsten Folterer der ESMA waren die Militärangehörigen Alfredo Astiz und Miguel Ángel Cavallo. Cavallo wurde 2000 in Mexiko verhaftet und 2011 in Argentinien so wie Astiz zu lebenslanger Haft verurteilt.

Nach dem Ende der Diktatur 1983 wurde das 17 Hektar große parkartige Gelände, auf dem 34 Gebäude stehen, wieder ausschließlich für seinen ursprünglichen Zweck genutzt. Erst Präsident Néstor Kirchner setzte zum Jahrestag des Militärputschs 2004 durch, dass einige der Gebäude vom Militär geräumt und für eine Gedenkstätte zur Verfügung gestellt werden mussten. Nur widerwillig wurde diese Anordnung befolgt. So lange bildete das Militär auch nach dem Ende der Dikatatur tausende Marineschüler auf dem Gelände aus, so als sei dort nichts passiert – Zivilpersonen hatten keinen Zutritt.

Heute ist das Gelände eine Gedenkstätte. Junge Menschen führen Besucher individuell durch die ehemaligen Folterräume im dreistöckigen Offizierskasino und erklären die Abläufe: Die Opfer wurden von Männern in Zivil mit schweren Waffen aus ihren Wohnungen geholt. Ihnen wurden Kapuzen über den Kopf gezogen und sie wurden dann umgehend in die ESMA gebracht. Die meisten wurden dort zuerst in den „Sotano“ geschafft, den Folterkeller. Dort gab es einen Raum, dessen Wände mit Eierkartons beklebt waren. Meist drehten die Folterer das Radio auf volle Lautstärke, wenn sie ihren Opfern Elektroschocks an allen sensiblen Körperteilen verpassten.

Nach der physischen Folter wurden die Häftlinge in der Regel in den dritten Stock des Casinos gebracht, die so genannte Capucha (Kapuze). Die Häftlinge lagen dort auf stinkenden Schaumstoffmatratzen, mit einer Kapuze über dem Kopf und mit Eisenketten an Händen und Füßen gefesselt – rund um die Uhr. Ohne Tageslicht und unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen. In den beiden Etagen unter der Capucha waren die Schlafräume der Offiziere. Die Opfer wurden als Desaparecidos (Verschwundene) bezeichnet. Nach Aussagen des argentinischen Offiziers Adolfo Scilingo wurden viele der in der ESMA Inhaftierten auf so genannten Todesflügen (Vuelos de la muerte) betäubt und nackt aus Flugzeugen über dem nahen Río de la Plata oder dem Atlantik abgeworfen.

Schwangere Frauen wurden zum Teil getötet, nachdem sie geboren hatten. Diese Säuglinge wurden zur Adoption an Familien von Offizieren weitergegeben, teilweise gegen Geld. Nach dem Ende der Diktatur 1983 versuchten viele Großeltern und verbliebene Elternteile, diese Kinder wiederzufinden. Die Organisation Großmütter der Plaza de Mayo schätzt, dass es in Argentinien insgesamt etwa 500 von den Schergen der Diktatur geraubte und dann im Geheimen zur Adoption freigegebene Kinder gibt. Etwa 105  während der Militärdiktatur verschwundene Kinder konnten mit ihren überlebenden Elternteilen oder rechtmäßigen Familien wieder zusammengeführt werden. Die Bemühungen dauern an. Die Konfrontation mit ihrer wahren Herkunft ist für die mittlerweile erwachsenen Kinder meist ein schmerzhafter Prozess – auch  weil ihre vermeintlichen Väter als Offiziere nicht selten an der Folterung und Ermordung ihrer tatsächlichen, leiblichen Eltern beteiligt waren.

Chicos
Wie konnten an diesem Ort Kinder geboren werden?

Die Überlebenden fordern noch heute Gerechtigkeit. Alle, die in der ESMA zu der Zeit waren, ob Offiziere oder Schüler, wussten von den Folterungen: Der reguläre Betrieb der Akademie lief parallel weiter. Opfer, Folterer und Marineoffiziere benutzten im Casino gemeinsam die selbe Treppe.

Der reguläre Betrieb der Akademie lief parallel weiter. Opfer, Folterer und Marineoffiziere benutzten im Casino gemeinsam die selbe Treppe.
Der reguläre Betrieb der Akademie lief parallel weiter. Opfer, Folterer und Marineoffiziere benutzten im Casino gemeinsam die selbe Treppe.

 

2 Kommentare zu „Die Welt zu Gast bei Folterknechten

  1. Dieser Beitrag ist jetzt vielleicht etwas schwer verdauliche Kost, vor allem, wenn man das am Sonntag morgen liest. Aber mir war dieses Thema sehr wichtig und ich habe heute den ganzen Tag in dieser Gedenkstätte verbracht, auch weil ich dort wirklich nette und auskunftsbereite Menschen kennengelernt habe, die alle meine Fragen beantwortet haben – auf Englisch, sonst wäre aus dem Bericht ein ganz schönes Kuddelmuddel geworden.

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s