Afrika und Europa, das ist eine heikle Angelegenheit. In jeglicher Hinsicht. Auch tektonisch. Der Kontinent stößt gegen Europa. Das erzeugt im Untergrund Spannungen, die sich von Zeit zu Zeit mit gewaltigen Krach und heftigen Erschütterungen entladen. Das ist besonders gründlich 1693 im Südosten der Insel geschehen. Das damalige Erdbeben war so stark, dass es die Städte in der Region völlig zerstörte. Da gab’s nichts mehr zu reparieren. Es half nur ein kompletter Neuaufbau.

Die Städte im Südosten der Insel, im Val di Noto, waren vom Barock noch kaum erreicht worden, als dieses Erdbeben sie in Schutt und Asche legte. Mit einer Stärke von 7,4 auf der Richterskala, so glauben Wissenschaftler heute, war es das Stärkste, das bis dahin jemals in Italien gemessen wurde. 60000 Menschen sollen damals gestorben sein, alleine 16000 in Catania.
Die ersten starken Erschütterungen kamen ohne Vorwarnung am Abend Freitag, 9. Januar 1693, gegen 21 Uhr. Viele Gebäude stürzten zwar ein, aber es soll keine Verletzten gegeben haben. Am folgenden Samstag gab es keine weiteren schweren Erschütterungen, die Menschen atmeten auf, hatten die Illusion, dass alles vorbei war, noch einmal davongekommen zu sein. Dass dies tatsächlich eine Illusion war, spürten sie am Sonntag Morgen, 11. Januar, um 9 Uhr, als es immer wieder zu starken Stößen kam. Das schreckliche und vernichtende Erdbeben ereignete sich schließlich um 13.30 Uhr. Es ließ eine enorme Zerstörung und tausende Tote zurück. Zwei Jahre lang sollte die sizilianische Erde nicht mehr zur Ruhe kommen.
Das Val di Noto lag in Trümmern. Rekonstruieren: ausgeschlossen. Also: Ganz von vorne beginnen. Der Neuanfang führte zu einer durchgreifenden Modernisierung der beschädigten Stadtanlagen. In Catania, der alten Universitätsstadt am Ionischen Meer, und in vielen anderen Orten dieser Region entstanden nun an der Stelle mittelalterlich verwinkelter Gassen rechtwinklige Straßennetze und großzügig angelegte Plätze.

Noto wurde gar an einem anderen Ort von Grund auf neu errichtet. Näher an der Küste. Graf von Landolina aus Syrakus war die treibende Kraft. Er beauftragte die Architekten Rosario Gagliardi, Paolo Labisi, Antonio Mazza und Vincenzo Sinatra, welche 1703 einen neuen Stadtplan mit einem rechtwinkligen Straßenraster vorlegten. Dieses wurde mit Kirchen und Palästen ausgefüllt. Bevorzugtes Baumaterial war der helle Kalktuff aus der Gegend. Beflügelt durch das Streben nach möglichst großem Einfluss in der Stadt, versuchten viele Bauherren, sich beim Wiederaufbau gegenseitig zu über treffen, etwa der Bischof die Stadtregierung oder eine adelige Familie die andere.
Val di Noto, „das Land des sizilianischen Barock“, ist heute UNESCO-Weltkulturerbe. Noto hat unter diesen Städten den einheitlichsten architektonischen Gebäudekomplex. Die Stadt wird auch als „Garten aus Stein“ bezeichnet, sie ist die schönste Blüte in diesem betörenden Überschwang der Baukunst. Sie ist gleichzeitig ein sprechendes Beispiel für den menschlichen Glauben, für Beharrlichkeit und kolossale Lebenslust. Den architektonischen Gärtnern ist es gelungen, eine absolute Harmonie der Gebäude mit der Umwelt zu erreichen. Kirchen, Paläste und Gotteshäuser sind ein Teil des Ganzen, ein Kettenglied, der die Erde mit dem Himmel vereinigt.
