Auferstanden aus Ruinen

Fast 20 Jahre ist es jetzt her, dass ich das erste Mal nach Palermo kam. So wie es sich gehört, mit dem Schiff. Die einzig angemessene Art, um nach dort zu gelangen. Schon Stunden vor dem Einlaufen der Fähre aus Genua in den Hafen stand ich aufgeregt an der Reling, um nur ja nichts zu verpassen. Auch mich hatte Goethe mit seiner Italienischen Reise manipuliert, wie so viele andere vor mir,  hoffte auch ich, das zu sehen, was dieser Dichter 200 Jahre zuvor schon zu sehen vorgegeben hatte. Dunstig war es, selbst auf See drückte die Hitze, man sah gar nichts. Die Inselkapitale in ihrer ganzen Würde, die sich nur vom Meer her offenbart, die „Conca d’oro“ versteckte sich im Dunst. Der Mythos Palermos, der die Vielfalt, das Elend und den Reichtum Siziliens vereint, blieb versteckt in Dunstschwaden.

Wir gingen also an Land, ich ein wenig enttäuscht, Goethes Erfahrung nicht geteilt zu haben. Ängstlichkeit war unsere stete Begleiterin. Palermo, das war 2001, als es noch keinen Euro gab, die Stadt ganz weit weg, ganz tief im Süden, umflort von der gruseligen Magie des Begriffes „Mafia“. Palermo blieb sperrig. Spätestens um 20 Uhr war alles hochgeklappt, die Eisenrollos rauschten lärmend herab. Wir, die italophilen Deutschen, staunten, dass es so tief im Süden keinen abendlichen Corso gab, keine Bars, keine Cafés, keine Menschen, die die Straßen bevölkerten. Wie ausgestorben wirkte Palermo.

Palermo war zur Jahrtausendwende noch ein düsterer Mythos. Tags, als das Leben zurück kehrte auf die Straßen, der Verkehr wie wahnsinnig tobte, konnte es in dieser Stadt schnell passieren, dass der Tourist in zwielichtigen Gegenden strandete, den Blick dann stur gerade aus. Nur nicht auffallen. Als ob das durch Wegschauen möglich gewesen wäre. Pferde vegetierten damals noch in  dunklen Verschlägen der Erdgeschosse der vielstöckigen Mietshäuser in der Altstadt. Archaisch mutete das an, fremd, befremdlich. Dazwischen Trümmer, noch von den Bombardements des Zweiten Weltkriegs. Und dann, ganz unvermutet, schon damals wie auferstanden aus diesen Ruinen, die herrlichen Baudenkmäler aus allen Epochen. Der Normannenpalast, die Kathedrale, die Quatro Canti, damals natürlich noch ein wichtiger, lauter, abgasgeschwängerter, umtoster Verkehrsknotenpunkt. Der Spaziergang zu Lo Spasimo glich einem Wagnis sondergleichen, verrucht trifft die damals zu durchquerenden Quartiere nur dürftig.

Cattedrale di Palermo
Baudenkmäler aus allen Epochen zieren Palermo, hier die Kathedrale, das einzige christliche Gotteshaus der Welt, das mit einer Koransure geschmückt ist.

Ich war nach 2001 noch mehrmals in Palermo, immer das Gleiche, seit zehn Jahren aber nicht mehr. Jetzt war ich wieder dort. Ich kam nicht mit dem Schiff an, sondern ganz profan, mit dem Bus aus Catania. Nicht die „Conca d’ora“ breitete sich vor mir aus, sondern die „Conca di cemento“, wie die trostlosen Betonquartiere der Außenbezirke genannt werden, mit denen vermutlich die Mafia ihr Geld wusch. Fast sprachlos war ich, als ich das mythenreiche Palermo — allgemein und privat — ganz neu entdeckte. Ich staunte. Die fünftgrößte Stadt Italiens ist heute eine quirlige, quicklebendige Metropole, bunt, aufregend. Dort, wo vor 20 Jahren erbarmungswürdige Pferde ihren Stall hatten, sind heute kleine Geschäfte, Designerläden, und die Quatro Canti sind Fußgängerzone. Der Spaziergänger muss sich nicht mehr in Lebensgefahr begeben, wenn er vom Mittelpunkt aus die Kreuzung des Corso Vittorio Emanuele mit der Via Maqueda erleben will. Diese Verkehrsachsen sind allesamt Fußgängerzonen, mit Betonquadern abgesperrt, die aber bunt bemalt. Fremd wirkt durch diese plötzliche Wandlung, durch die Verbannung des irrwitzigen Verkehrs, die Stadt auch jetzt, fast ein wenig wird sie zur Kulisse für dieTausenden Touristen, die anstelle der Autos heute die Straßen verstopfen. Auch das wirkt ein wenig enttäuschend, aber nur für einen Moment der Nostalgie. In der nackten Realität war es die Mafia, ihre grausamen Morde und Verbrechen, die früher Palermo zu einer Untoten machten.

 

Sparkling Palermo
Tatsächlich zeigt Palermo heute noch Widersprüche. Licht und Schatten finden sich auf einem Platz, einer Gasse, ja in einem Haus. Wer durch die Viertel um den Corso Vittorio Emanuele und die Via Maqueda streift, stößt auf liebevoll restaurierte Barock-Paläste und herrliche Stadtgärten. Und inmitten dieses Überschwangs versprüht der Brunnen auf der Piazza Pretoria.

Tatsächlich zeigt Palermo heute noch Widersprüche.  Licht und Schatten finden sich auf einem Platz, einer Gasse, ja in einem Haus. Wer durch die Viertel um den Corso Vittorio Emanuele und die Via Maqueda streift, stößt auf liebevoll restaurierte Barock-Paläste, herrliche Stadtgärten, quirlige Trattorien und das besagte, heute blühende Kulturzentrum in der Kirche Santa Maria dello Spasimo, das früher nur mit einem flauen Gefühl im Magen zu erreichen war.

Und dann, eine Ecke weiter, öffnet sich ein Bild des Verfalls, als habe da ein apokalyptischer Reiter die Kulisse entworfen. Da stehen Häuserruinen noch so, wie sie die alliierten Flächenbombardements 1943 zurückließen, da hängen verrottete barocke Balkongitter vor vermauerten Fenstern, sind Fassaden mit Drahtgitter überspannt, damit keine Brocken auf die Straße fallen. Etliche Häuser sind ganz eingerüstet – nicht weil sie renoviert werden, sondern damit sie nicht einstürzen.

Streetart in Palermo
Und dann, eine Ecke weiter, öffnet sich ein Bild des Verfalls, als habe da ein apokalyptischer Reiter die Kulisse entworfen. Da stehen Häuserruinen noch so, wie sie die alliierten Flächenbombardements 1943 zurückließen. Für Streetart-Künstler eine willkommene Leinwand.

Leoluca Orlando, Palermos Bürgermeister, hat es geschafft, dass es in Palermo jetzt nicht nur Schatten, sondern auch viel Licht gibt. Zwischen 1985 und 2000 hat er bereits drei Mal regiert. Jetzt wieder, noch bis 2022. Dabei gelang es ihm, vom Kommunalpolitiker zum Mythos zu werden. Orlando wurde Heldengestalt im Kampf gegen die Mafia, das Symbol des „Frühlings von Palermo“, der gute Pate der verwahrlosten Metropole Siziliens. Er hauchte der fatalistischen Stadt Hoffnung ein. Er ließ Kirchen und Paläste renovieren, Parks anlegen, Straßen beleuchten, Museen eröffnen und schaffte so heile Inseln in der von Armut und Verfall zerfressenen Altstadt. Und er hämmerte den Menschen ein: „Die Mafia ist nicht eure Identität – sie pervertiert eure Identität.“ Die Cosa Nostra räumte ihm dafür den Spitzenplatz auf ihrer Abschussliste ein. „Wandelnde Leiche“ wurde er genannt.

Der aus altem Adel stammende Bürgermeister überlebte – zu seiner Überraschung. Seine Popularität habe ihn geschützt, besser noch als die Leibwächter. „Wenn ich in die Trabantenstädte zu den Menschen ging, und die Kinder kamen und umarmten mich, dann wagte es die Mafia nicht, mich zu töten.“

In Palermo  hat „u sinnacu“, der Bürgermeister,   seinen Zauber bis heute behalten. Das zeigt sich auf dem ältesten Straßenmarkt, dem quirligen Ballarò im Centro Storico. Im Gegensatz zur nahen Vucciria ist der Ballarò noch nicht zum Theatermarkt für Touristen geworden. Die Händler haben vor ihren höhlenartigen Läden aufgebaut, was die Menschen brauchen. Artischocken und Turnschuhe, Käse und Jeans, Klopapier, Bier, Rindsleber und Handtaschen. Markisen und Plastikplanen hängen so dicht über den gewundenen Gassen, dass kaum Sonnenlicht eindringt. Die Sizilianer haben Angst vor der Linken, das zeigen die Wahlergebnisse regelmäßig. Aber Leoluca Orlando wählen sie trotzdem. Immer wieder. Auch wenn nach 2022 erst mal wieder Schluss sein wird, denn mehr als zwei zusammenhängende Wahlperioden gibt das italienische Wahlrecht nicht her.

Und für eine weitere große Sache steht Orlando, in Zeiten, in denen ganz Europa ernsthaft darüber diskutiert, im Mittelmeer Menschen ertrinken zu lassen. U sinnacù steht für eine Willkommenskultur alla siciliana. Es heißt, er begrüßt die Flüchtlinge in seiner Stadt persönlich. Keine andere Stadt in Europa hat so viele Flüchtlinge wie Palermo aufgenommen — trotz ihrer eigenen immensen Probleme, die als einfache Ausrede gelten könnten.

Es gibt noch viel zu tun in Palermo, immer noch. Dennoch: Vor 20 Jahren war Palermo eine Stadt der Angst. Heute ist es eine Stadt mit Ambitionen. Will wieder zu dem wirtschaftlichen und geistigen Zentrum des Mittelmeerraums werden, das es in der Geschichte schon war, etwa unter dem Staufer-Herrscher Friedrich II.

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