Donnerstags ist auf Instagram der Throwback-Thursday-Tag. User posten Bildchen von früher, was dort meistens bedeutet: von letzter Woche, letztem Monat oder vielleicht von vor einem Jahr. Von vor 20 Jahren, dafür sind die meisten Insta-User viel zu jung.
Ich habe mich am gestrigen Throwback Thursday ebenfalls auf eine Reise in die entgegengesetzte Richtung des Zeitstrahls begeben. Zufällig fand ich nämlich in den Tiefen meiner digitalen Ordner Fotos, die ich 2001 auf meiner ersten Sizilienreise aufgenommen habe. Damals habe ich noch mit Filmen fotografiert, insgesamt entstand eine überschaubare Anzahl von Bildern. Wenn ich sie heute betrachte, kommen sie mir vor wie aus einem anderen Jahrhundert, obwohl die Jahrtausendwende bereits geschafft war. Aber die Zerstörung von Raum und Zeit und der Verlust der Vergangenheit, wie Joachim Fest in seinem Italien-Buch „Im Gegenlicht“ das weit vor 2001 beschrieben hatte, war damals schon in vollem Gange. Nicht nur, weil die Sizilianer begonnen hatten, sich gegen die Mafia zu wehren.

Als ich 2001 das erste mal auf die Insel kam, wusste ich kaum etwas darüber. Die Bilder, die wir auch in Deutschland sahen von dem Bombenkrater auf der Autobahn bei Palermo, der zurück blieb, als der Staatsanwalt und Mafia-Jäger Giovanni Falcone von der Cosa Nostra 1992 hingerichtet worden war, hatte ich noch im Kopf. Ein diffuses Gefühl der Gefahr vielleicht noch und die Überzeugung, dass alle Sizilianerinnen schwarz gekleidet wären. Alte Männer mit Hüten, die in Gruppen zusammen sitzen und gestenreich palavern. Natürlich hatte ich vorher Goethes „Italienische Reise“ gelesen, aber auch Leoluca Orlandos „Ich sollte der Nächste sein“. Aber sonst…
Die Fähre spuckte mich in einem Palermo aus, das in manchen Vierteln der Altstadt noch wie im Zweiten Weltkrieg eingefroren schien. Der Schutt der zerbombten Häuser lag auch 58 Jahre später noch an Ort und Stelle. Manche Straßenzüge wirkten wie Elendsviertel irgendwo in Afrika. Und doch waren bereits erste Zeichen der Hoffnung sichtbar: Die Quattro Canti waren von Baugerüsten verhüllt, das Teatro Massimo war nach Jahrzehnten erst einige Jahre zuvor wieder eröffnet worden. Dennoch war die Stadt damals nach 20 Uhr wie ausgestorben, wenn die letzten Metall-Rolltore der Geschäfte lautstark nach unten gerauscht waren. Sie wirkte abweisend und war in nichts vergleichbar mit der lebenslustigen Metropole, die sie heute ist.
Meine Reise führte mich damals weiter über Cefalù und Taormina bis nach Siracusa. Auch hier war das „alte“ Sizilien vermeintlich noch an allen Ecken und Enden spürbar, was immer auch mit dem morbiden Charme des Verfalls zu tun hatte. Der Südosten der Insel war zu diesem Zeitpunkt noch nicht UNESCO-Weltkulturerbe. Dieser Status hat seit 2005 vermutlich Milliarden Euro in die Region gespült. Damals, 2001, wurde noch mit Lire bezahlt.
Es gab noch keine coolen Bars, die mit der heute weltweit üblichen putzigen Kreideschrift auf Englisch für ihre Drinks werben. Und die Touristenströme waren im August in etwa so überschaubar wie in diesem aktuellen sonderbaren Corona-Jahr.
Seit 2007 bin ich nun regelmäßig hier und jedes Jahr fehlt wieder etwas mehr von der „Sicilianità“. Das Straßennetz hier im Südosten hat nichts mehr mit den löchrigen Fahrbahnen von einst zu tun. Die findet man nur noch im Inselinneren. Die Routen sind jetzt einerseits viel sicherer, aber andererseits auch nicht mehr annähernd so „romantisch“. Zumindest nicht für meinen mitteleuropäischen Blick.
In den Städten wird viel modernisiert, viel neu gebaut. Die Palazzi werden auf Vordermann gebracht und die Etagen dann für horrendes Geld verkauft. Der morbide Charme des Verfalls weicht der Schönheit der historischen Bausubstanz. Ein kleiner Laden nach dem anderen verschwindet, um Platz zu machen für noch hippere Bars, Boutiquen oder billige Souvenirshops.
Mich macht diese Entwicklung manchmal ein bisschen traurig. Dann frage ich mich allerdings, ob mir dieses Gefühl zusteht, ob es nicht sogar kolonialistisch ist. Die Mitteleuropäerin, die dem morbiden Charme einer noch vor 20 Jahren in vielen Bereichen rückständigen Insel nachtrauert. Die Aufholjagd der Sizilianer, was den Anschluss an die international vernetzte Community anbelangt, sollte mich freuen und freut mich auch. Denn Frauen können jetzt immerhin auch hier im tiefen Süden alleine in eine Bar, ohne schief angeschaut zu werden. Ich sollte mich darüber freuen, dass zumindest Starbuck‘s und Co. hier nicht Fuß gefasst haben. Die Bars haben in all ihrer hippen Erscheinungsform immerhin jede für sich ihren individuellen Look. Und die traditionellen Läden gibt es ja auch, zumindest noch. Die nicht auf die Instagram-taugliche Ästhetik des Interieurs schielen, sondern auf ihr Angebot. Nirgends gibt es besseren Caffè als in den unscheinbaren Bars mit den Plastikstühlen auf der Straße, sirupartig, nur ein Fingerhut voll, bittersüß, unbeschreiblich.
Das Kleben an der Vergangenheit macht Veränderung unmöglich, davon bin ich überzeugt. Schade ist bei Wandlungsprozessen allerdings, dass in der globalisierten Welt hinterher oft alles gleich wirkt. Egal, wo man sich gerade aufhält, man hat alles irgendwo schon mal gesehen. Ist ja auch bequem. Schade ist auch, dass leider viel zu oft zu viel imitiert wird. Aber solche Erneuerungsprozesse brauchen halt auch Zeit, möglicherweise bildet sich gerade eine neue „Sicilianità“ heraus. Den schleichenden Verlust der alten Details, der verschwindenden Sicilianità, fange ich trotzdem gerne mit meiner Kamera ein. Ich nenne diesen Auflösungsprozess „fading“…
(Alle Bilder in diesem Beitrag sind, wie alle Bilder in diesem Blog, urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht unerlaubt kopiert werden.)