Auf Distanz

Eine schlimme Sache sei das mit dem Virus. Da redet mein Nachbar gar nicht drum rum. Neun Monate, seit Anfang Oktober, hatte ich ihn bis da nicht mehr gesehen. Dass in dieser Zeit ein Virus die ganze Welt verändert hat, lässt sich an der Begrüßung ablesen: keine baci, keine Umarmung nach dieser langen Zeit. Man bleibt sogar im so körperbetonten Sizilien auf Distanz. Mein Nachbar verharrt also lieber hinter dem niedrigen schmiedeeisernen Zaun, der vor seiner Küchentür angebracht ist. Mehr social distancing geht wohl für einen Sizilianer nicht.

Social distancing in Noto.

Er kommt gleich auf den Punkt und zählt mir die Länder auf, in denen das Virus ganz besonders schlimm grassiert. Amerika, das wiederholt er immer wieder, und Spanien. In Deutschland sei es ja wohl nicht so schlimm. Aber in Amerika, in Spanien. Auch in Brasilien, gibt er mir recht. Und in Italien?, frage ich ihn. In Sizilien jedenfalls nicht. In Italien eigentlich auch nicht. Na ja, in Milano, räumt er dann ein, da sei es auch ganz schlimm, aber nicht in Italien, nicht in Sizilien. Bergamo, sagt er, nachdem ich ihm von den Bildern erzählt habe, die wir in Deutschland gesehen haben, ja, die hatten auch ein Problem. In Lombardia, noch immer, räumt er ein. Aber nicht in Italien, und schon gar nicht in Sizilien. Und dann betont er wieder, wie schlimm es in Amerika ist, ich meine sogar, ein bisschen Schadenfreude herauszuhören. Spanien, ganz schlimm auch. Und dass die Deutschen das Virus so gut in Schach gehalten hätten, da meine ich ein wenig Missgunst in seiner Stimme wahrzunehmen. Die deutsche Gründlichkeit mal wieder. Aber wenn dort dann bald der Winter kommt, dann bringe der sicher auch in Germania eine seconda onda, ist er überzeugt.

Wir einigen uns darauf, dass es ein schreckliches Jahr ist. Aber immerhin, die Sonne scheint, und il mare sei in diesem Jahr schöner, blauer, sauberer denn je, versichert er mir. Ob ich schon auf der spiaggia gewesen sei, will er noch wissen und dann ruft ihn seine Frau Rosetta zum Abendessen. Wenn der Magen gut gefüllt ist, dann sei doch alles halb so wild, meint sie noch. Und jetzt sei ich ja ben tornato, schickt sie hinterher.

Von dem Chaos und der Ungewissheit, ob ich in diesem Jahr überhaupt nach Sizilien kommen können würde, wissen meine Nachbarn ja nichts. Sie sind ihrer Scholle treu und selbst ein Ausflug nach Siracusa oder gar Palermo steht für sie nicht zur Debatte. Ihr ökologischer Fußabdruck ist vermutlich mehr als vorbildlich, auch wenn sie sich das möglicherweise nicht ganz freiwillig so ausgesucht haben.

Ich habe es also in diesem Ausnahmejahr doch noch hierher geschafft, auch wenn meine Vorfreude, um ehrlich zu sein, eher sehr schwach war. Die dauernden Stornierungen, Umbuchungen, Umplanungen des Zeitraums, leicht genervte Kollegen, die Ungewissheit, was mich hier erwarten würde, der Ekel vor einem voll besetzen Flugzeug, genauer gesagt zwei voll besetzten Flugzeugen, weil es keine sinnvollen Direktflüge gab — am liebsten wäre ich in Deutschland geblieben.

Sitzplätze im Wartebereich am Airport Roma Fiumicino.

Dann die gruselig-geisterhaft leeren Flughäfen in München und Rom, die dauernden warnenden Durchsagen, die typisch italienischen Formulare, die ausgefüllt werden mussten, das Eintragen auf einer Website, das Fiebermessen vor dem Einsteigen in das Flugzeug, um dann doch ohne Sicherheitsabstand neben Wildfremden platziert zu werden, die es mit den Distanzregeln vor scheinbar stark ausgeprägter Urlaubsvorfreude nicht so genau nahmen. Auch Handgepäck in der Kabine war nicht erlaubt, um die üblichen Tumulte um die Gepäckfächer zu verhindern, weshalb ich einfach gar nichts mitnahm, um nicht auch noch ewig am Gepäckband in einer drängelnden Menschentraube warten zu müssen. Weil man weiß ja nie, und italienisch-staatlich verordnete Quarantäne wäre für mich der Super-GAU gewesen.

Hat ja zum Glück alles geklappt und auch meine „Community“ hier ist halbwegs durch den italienischen Lockdown gekommen. Sizilien war, ebenso wie der gesamte südliche Teil des Stiefels, im Vergleich zu anderen italienischen Regionen ziemlich verschont geblieben vom Virus, etwas über 3500 Fälle wurden bisher erkannt. Jetzt werden an den schlimmeren Tagen mal vier oder sieben Neuinfektionen gemeldet, aber die werden dann immerhin nicht herunter gespielt. Auf jeden Fall wird meistens angemerkt, dass ja gar keine Sizilianer betroffen seien. Migranti, turisti, sowas halt, schleppen das Virus ein, ist dann in den Zeitungen zu lesen.

Dass hier im Vergleich zu normalen Jahren, zuletzt kamen pro Saison an die 15 Millionen Besucher auf die Insel, nichts los ist, ist bei jedem Giro abends auf dem Corso sichtbar: Der Menschenstrom auf der Flaniermeile gleicht eher einem Rinnsal. In Lido di Noto sind die größeren Hotels weiter ganz geschlossen. Ausländer sind nur wenige da, in den Autos mit deutschen Kennzeichen sitzen meistens in Germania lebende Verwandte der Netini.

Der Menschenstrom auf Notos Corso gleicht momentan eher einem Rinnsal.

Es wirkt in diesem Jahr alles ein bisschen verhalten, diese gewohnte überbordende Lebenslust bricht sich noch nicht so richtig Bahn. Vielleicht geht das mit den Mund-Nasen-Masken auch nicht, ohne die man zumindest in keinen Supermarkt reinkommt. Eigentlich muss man sich auch vor jedem Geschäft die Hände desinfizieren und Einweghandschuhe tragen, aber das machen die meisten nicht. Es ist ohnehin kaum vorstellbar, dass ein Virus, das den menschlichen Körper bei 35 Grad im Schatten verlässt, überhaupt eine Überlebenschance von mehr als einer Sekunde haben könnte. Aber was genaues über das Virus weiß ja keiner, auch hier nicht.

Ein weiterer Nachbar aus meinem Vico, der sich seit zehn Jahren standhaft weigert, mich zu grüßen, warum auch immer, geht zum Beispiel niemals ohne seine extreme FFP3-Maske auf die Straße. Ich frage mich, wie er sich so bis zum Bäcker schleppen kann, wo man im Juli in der Hitze oft auch ohne Tuch vor Mund und Nase auf der Straße keine Luft bekommt. Aber ich habe in den vergangenen Wochen auch schon überängstliche Touristen-Familien mit solchen Hochsicherheits-Filtern im Gesicht Sightseeing machen sehen. Die Kinder haben es scheinbar klaglos über sich ergehen lassen. Das andere Extrem gibt es natürlich auch, beim Tabbachi warten sie jeden Tag, von der Klimaanlage gut gekühlt, ohne ihre Masken auf die Ziehung der Lottozahlen. Da fallen mir dann immer die Infektionsherde in den deutschen Großschlachtereien ein, die angeblich ja auch auf die Kühlung zurückzuführen sein könnten. Aber wie gesagt, was genaues weiß ja niemand, auch wenn es in Deutschland mittlerweile neben 80 Millionen Fußball-Bundestrainern auch 80 Millionen diplomierte Virologen gibt. Wir sind halt doch das Land der Dichter und Denker.

Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung halte ich hier ebenso wie in Deutschland für zumutbar und ebenso lasse ich vor größeren Supermärkten das Fiebermessen über mich ergehen. Obwohl ich jedes mal leichte Panikattacken kriege bei der Vorstellung, welches Prozedere losgehen würde, wenn ich eine Temperatur von über 37,5 Grad hätte. Ich meide diese großen Geschäfte aber ohnehin.

Das Desinfizieren ohnehin frei bleibender Tische in den Bars, so wie hier in Modica, ist momentan die Hauptbeschäftigung der Betreiber.

Ganz ohne Bar geht es aber auch in Corona-Zeiten nicht. Die Kellner sind jedenfalls die ganze Zeit damit beschäftigt, die ohnehin meistens nicht besetzten Tische in ihren Läden zu desinfizieren. Im Nobel-Restaurant bei mir in der Nachbarschaft, dem „Crocifisso“, können die Mindestabstände gut eingehalten werden, einen Platz beim Sterne-Koch zu bekommen, ist in dieser Saison kein Problem. Und in Kirchen habe ich im Weihwasserbecken auch schon mal Desinfektionsmittel entdeckt: „Holy Water 2.0“ quasi. Stühle sind abgezählt, auf Bänken die nutzbaren Sitzplätze aufgeklebt.

In Giarratana dürfen genau 98 Menschen in den Gottesdienst.
Holy Water 2.0 — gesehen in S. Giorgio in Modica.

Na ja, am Strand scheint wenigstens alles beim Alten zu sein, am Wochenende kann man da guten Gewissens nicht hin, aber das habe ich auch in den Vor-Corona-Zeiten schon nicht gerne gemacht. Wie Sardinen in einer Konservenbüchse gequetscht zu liegen ist zu keiner Zeit mein Ding. Auch in den Stabilimenti, den Badeeinrichtungen mit den hübschen Liegestühlen und Sonnenschirmen, lässt sich für mein Auge nicht ausmachen, ob die tatsächlich in diesem Jahr weniger dicht stehen als sonst. An den freien Stränden macht eh jeder, was er will. Es sind zwar mehr Lebensretter, Salvataggi, im Einsatz als sonst, aber ich habe noch nie gesehen, dass die auf irgendwelche Hygienemaßnahmen hingewiesen hätten. Am Strand mit dem steten Wind, der hier ja meistens mehr ist als nur eine leichte Brise, der starken Sonne und dem Meerwasser kann, daran glaube ich fest, ohnehin nichts passieren.

Die weißen Tauben sind noch nicht müde.

Es ist jedenfalls ein sonderbares, ja irgendwie ein schlimmes Jahr, da gebe ich Rosetta, meiner Nachbarin, recht, die mir einige Tage nach meiner glücklichen Ankunft erzählte, dass sie auch in Sizilien während des Lockdowns gar nicht aus dem Haus durften, außer zum Einkaufen oder Arbeiten. Auch ihr kleiner Enkel durfte nicht kommen, obwohl er nur ein paar Häuser weiter wohnt, und das ist für eine sizilianische Nonna die Höchststrafe. Aber im Aushalten von Naturgewalten, Eroberern, Seuchen und anderen Katastrophen sind die Sizilianer seit Jahrtausenden Meister, das merke ich auch jetzt wieder. Rosetta stellt nämlich noch fest: „Das geht auch vorbei.“

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