Hinterland

… ist eines meiner Lieblingswörter im Deutschen. Umso schöner, dass es auch im Italienischen verwendet wird, um ländliche Regionen abseits der Metropolen oder touristischer Hotspots zu bezeichnen. In „Hinterland“ schwingt immer auch etwas Mystisches mit, etwas Unbekanntes, Unentdecktes, Unerschlossenes. Der Begriff stammt eigentlich aus dem frühen Völkerrecht, genauer: aus dem Kolonialrecht. Mit Hinterland war in diesen trüben Zeiten meist das unerschlossene Landesinnere hinter den zunächst eroberten oder angekauften Küstenstreifen gemeint.

Das soll trotz gegenwärtiger Bestrebungen, Sprache gerechter zu machen, meine Freude an dem Wort nicht trüben, das außer ins Italienische beispielsweise auch ins Englische, Spanische oder Portugiesische eingegangen ist. Wobei: Das lag sicherlich auch an der unheilvollen kolonialen Vergangenheit dieser einstigen Weltmächte…

Fahrten ins Hinterland machte ich bereits als Kind mit meinen Eltern. „Wir fahren ins Hinterland“ waren damals noch Ankündigungen meines Vaters, den nächsten Tag nicht gemütlich am Strand zu verbringen, sondern in irgendwelchen abgelegenen Ecken. Ich erinnere mich noch an eine elend lange Autofahrt nach San Marino. Oder an die nicht enden wollende Anfahrt nach Florenz. Wobei es sich dabei aus meiner heutigen Sicht ja nicht um klassische Hinterland-Gemeinden gehandelt hat.

Irgendwas von diesen Hinterland-Touren muss aber doch bei mir hängen geblieben sein, denn ich mache sie heute noch regelmäßig. Einfach losfahren, an einer Kreuzung irgendwo abbiegen, mal schauen, was dahinter liegt. Oft nicht viel. Aber genauso oft finde ich Augenöffner. Unerwartetes. Neues. Es ist ja nicht immer leicht, nach so vielen Jahren auf Sizilien noch Unbekanntes zu entdecken.

Meist brauche ich ewig für relativ kurze Strecken, weil ich ständig anhalte, aussteige, mir etwas genauer anschaue. Manchmal fahre ich auch nochmal zurück, weil mir etwas ins Auge gestochen ist, das mich dann nicht loslässt und ich es etwas genauer unter die Lupe nehmen will. Auf dem Rückweg kann ich das nicht machen, denn ich fahre nie die selbe Stecke noch einmal. Hinterland-Fahrten mache ich meistens alleine, für Mitfahrer wären sie vermutlich eine Zumutung.

Ich biege diesmal also rechts ab, von der SS 115 in Richtung Giarratana. Berühmt für seine gigantischen Zwiebeln. Die werden auch hier in Noto vom Laster runter verkauft. Wie weit es dorthin ist, weiß ich nicht genau, ich könnte nachschauen, lass es aber bleiben. Schließlich ist ja bei solchen Mini-Roadtrips der Weg das Ziel. Die Provinzstraße führt zunächst immer geradeaus in einem Tal der wellenartigen Monti Iblei. Links und rechts Felder, Zitrusfrüchte, ein bisschen Getreide, nichts Besonderes.

Im Hinterland.

Als erstes fällt mir eine kleine Kapelle auf, San Corrado gewidmet, dem Patron Notos. Warum sie dort steht, lässt sich ebensowenig beantworten wie ein paar Kilometer weiter, ob die Schule oder der Kindergarten noch in Betrieb ist, der einerseits etwas trostlos am Straßenrand steht und andererseits mit einer auffälligen Wandbemalung auf sich aufmerksam macht. Viele Kinder würden jedenfalls nicht hinein passen.

Kindergarten oder Schule? Bei Fahrten ins Hinterland bleiben viele Fragen unbeantwortet.

Langsam wird die Strecke kurviger, bergiger. Somit eröffnen sich hinter jeder Biegung neue Ausblicke. Allerdings bin sich seit meiner Begegnung mit dem Jungen ohne Namen im vergangenen Jahr etwas vorsichtiger geworden. Denn bei solchen Zusammentreffen ist man der Situation dann ausgeliefert. Ich verlasse die Provinz Siracusa. Über dem Land liegt wieder die monotone Melodie der Grillen, ansonsten ist es still. Kein Auto, kein Mensch. Ich kann also gefahrlos anhalten, um ein verfallenes Haus zu betrachten. Wie immer bleibe ich erst einen Moment im Wagen sitzen, um abzuschätzen, ob sich gleich ein Rudel wilder Hunde auf mich stürzen wird. Alles friedlich…

Säumen das Hinterland: verfallene und halb verfallene Immobilien.

Auch an den halb bis fast ganz verfallenen Häusern und Hütten hängen „Vende“-Schilder. Dabei frage ich mich, ob es die Besitzer überhaupt noch gibt. Und wer solche Immobilien kaufen soll. Auf den Homepages der Makler tauchen immer wieder solche Objekte auf und wer glaubt, so etwas gäbe es umsonst, der irrt.

Die Landschaft lädt zu einer kleinen Wanderung ein.

Die Landschaft ist hier in den Monti Iblei kleinteiliger als im Inselinneren. Die Felder sind mit Mauern unterteilt. Getreideanbau wechselt sich mit Zitrus- oder Olivenbäumen ab. Auch Viehwirtschaft gibt es. In der Hitze suchen die Kühe Schatten unter einem Baum. In den Geschäften hier kann man ihre Milch, die „Ragusana“ kaufen. Auf meiner Route öffnen sich sogar Wege, die zu einer kleinen Wanderung einladen. Allerdings nur zu einer klitzekleinen, denn wie gesagt, ich bin alleine unterwegs.

Oben in den Monti Iblei gibt es sogar kleine Waldgebiete.

So geht es immer weiter in die Berge hoch, mehrmals passiere ich die Provinzgrenzen, die hier im Hinterland scheinbar sehr verwoben sind. Die Straße wird löchriger, kurviger. Irgendwann komme ich sogar in ein Waldgebiet, also in ein sehr kleines. Ich muss mich schon ziemlich weit nach oben vorgearbeitet haben, denn auf Straßenschildern wird auf die Schneekettenpflicht im Winter hingewiesen. Außerdem sagt mir eine weitere Hinweistafel, dass ich mittlerweile nördlich von Ragusa sein muss. Nach Giarratana sind es noch zwölf Kilometer und es ist schon weit nach Mittag.

Giarratana, die Stadt der riesigen Zwiebeln.

Es erwartet mich eine Stadt im Siesta-Lockdown, kein Mensch auf der Straße, kein Laden geöffnet. Es fasziniert mich immer noch, wie eisern die Tradition der Mittagspause nach wie vor gepflegt wird. Trotzdem schaue ich mir Giarratana an. Wie nicht anders erwartet, gibt es gleich mehrere mächtige Barockkirchen. Eine ist sogar geöffnet, also werfe ich einen kurzen Blick hinein, habe aber gleichzeitig Angst, dass der Küster das Tor hinter mir verschließt. Also nichts wie wieder raus. Gegenüber ist das Rathaus und ich sehe einen Hinweis auf ein kleines Freilichtmuseum. Das hat aber auch geschlossen. Das heißt, das Museum ist in kleinen Häusern mitten in der Stadt eingerichtet und gezeigt wird dort offenbar, wie die Altvorderen gelebt haben. Weil manche Gebäude nur mit einem Gittertor versperrt sind, kann ich wenigstens einen kleinen Eindruck gewinnen. Ich merke mir das Museum auf jeden Fall fürs nächste Mal.

Barockkirchen, was sonst?

Hinter den Fensterläden höre ich Geschirr klappern und Menschen palavern gegen die TV-Shows an, die allerorten laufen und sich in den leeren Gassen akustisch duellieren. Es gibt einige malerische Winkel in dieser Provinzstadt, aber leider keine geöffnete Bar. Schlecht für mich. Die riesigen Zwiebeln habe ich auch nirgends gesehen. Aber ich habe mir ein weiteres Stück „meines“ sizilianischen Hinterlands erschlossen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s