Sicilia, Sicilia, Sizilien ohne Musik ist nicht Sizilien. Und so muss ich denn seine Musik in meine Bilder fassen. Seit Stunden befand ich mich vor 20 Jahren am Bug der Fähre Genua-Palermo, um den Augenblick nicht zu verpassen, wenn am Horizont Land auftaucht. Ich wartete, ja ich fieberte dem Augenblick entgegen, dass sie endlich auftaucht und emporsteigt, die Insel. Sicilia. Insel im Mittelmeer, die sich bis zum Afrikanischen Meer erstreckt am anderen Ende, prall voll Geschichte, gleichzeitig grün und ausgedörrt, erbeben- und vulkanbedroht, heiter und grausam.
Man kann in Sizilien ja gar nicht anders als staunen. Die Fülle der Eindrücke ist überwältigend. Die Schönheit und das Abscheuliche gehören hier ebenso unauflösbar zusammen wie die großartige Gastfreundschaft und das abweisende Schweigen der Sizilianer. Sizilien ist eine Achterbahnfahrt der Geschichte und der Gefühle.
Afrika liegt hier näher als Rom. Der Reisende muss ein Schiff besteigen, um in Sizilien anzukommen. Eine Brücke? Fehlanzeige, noch, vielleicht kommt sie bald. Knapp vier Kilometer trennen die Insel vom Kontinent, wie die Sizilianer das italienische Festland nennen. Wenn kurz vor Villa San Giovanni auf der Autostrada ein Schild nach Sicilia weist, hat das Sehnen fast ein Ende.

Von Süddeutschland aus dauert es nonstop einen ganzen Tag mit dem Auto oder mit dem Zug, um am gefühlten Ende Europas anzukommen. Weil das keiner schafft, fährt man besser nach einer Übernachtung weiter. Selbst dann hat man nicht viel Zeit, sich noch woanders als auf der Autostrada del Sole zu bewegen. Natürlich geht es auch schneller, mit dem Flugzeug, mit einer direkten Verbindung ab München in zwei Stunden, aber das ist nicht dasselbe.
Die Vorfreude und die Sehnsucht besonders diesmal, nach einem endlos langen Winter und einem Dauerlockdown, der sich wie Gefängnishaft in meiner Keinstadt anfühlte – endlich wieder sizilianischen Boden zu betreten, ist immer die gleiche. Dieses Mal war sie besonders groß. Ich habe die Insel vermisst, sie war in den umwirklichen Zeiten der Pandemie mein innerer Fixpunkt.
Ich kann mich auch nach 20 Jahren noch nicht satt sehen an den bröckelnden Palazzi, an den verfallenden namenlosen Dörfern abseits der Hauptrouten oder an den prächtigen Barockstädten im Val di Noto. Ich tauche ein in das grandiose Theater namens Alltag, das aus einem Gang zum Bäcker ein unvergessliches Erlebnis machen kann und zu dem ich mittlerweile selbst gehöre, wenn ich hier bin. Ich staune über die Dramatik banalster Konversationen, begleitet von einer virtuosen Gestik, dem rasenden Spiel der Hände. „Du darfst die Sprache nicht sprechen, du musst sie singen“, sagen sie mir hier in ihren weichen Worten. Silben, abgeschliffen wie die Glasscherben am Strand.
Viele tausend Jahre Geschichte lassen sich nicht in ein paar Worte fassen. Der sizilianische Boden ist getränkt mit den Geschichten der Griechen, Römer, Normannen, Araber, Spanier, Italiener. Sie waren alle hier und haben ihre Spuren hinterlassen: Paläste, Ruinen, in den Menschen, in der Sprache.
Sizilien hat auch böse Seiten, illegale Mülldeponien zum Beispiel, Schwarzbau in großem Stil, Fatalismus, Pessimismus, Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit, Gleichgültigkeit, Arbeitslosigkeit, Elend in Geflüchtetencamps. Und die Mafia. Auch wenn sie sich heute in einem zivilisierteren Gewand zeigt als noch vor 30 Jahren, ist sie doch immer noch da, durch die aktuelle Krise, so fürchten Kenner, vielleicht wieder mächtiger. Auch in meiner Nachbarschaft wurde vor zwei, drei Jahren am helllichten Tag das Auto des Pfarrers angezündet und niemand rief die Feuerwehr oder die Polizei. Niemand redete hinterher darüber. Der Vorfall wurde einfach totgeschwiegen. Omertà. Die Mafia, das ist in Deutschland oft das erste, von dem ich erzählen soll, wenn das Gespräch auf Sizilien kommt. Jeder weiß, wer Don Corleone ist, der Boss aus dem Kinofilm „Der Pate“, dem Marlon Brando sein Gesicht lieh. Die Mafiosi, das sind aber nicht die coolen Männer, die Cosa Nostra ist eine elende Mörderbande. Und ohne diese Geschichte zu erzählen, wäre nur die Hälfte gesagt.
Letizia Battaglia war die erste Fotoreporterin Italiens. In Palermo tobte der blutige Mafiakrieg um die Vorherrschaft unter den verschiedenen Clans der Cosa Nostra. Noch in der Dunkelkammer soll die Journalistin den Polizeifunk abgehört haben. Sie war immer eine der Ersten am Schauplatz der Schießereien. Zeitweise gab es beinahe jeden Tag mehrere Tote, manchmal fünf verschiedene Fälle am gleichen Tag. Sie schuf damals rund 600.000 stets akkurate Schwarzweißaufnahmen. Sie dokumentierte die internen Kriege der Banden ebenso wie ihre Durchdringung und Wirkung auf die Zivilgesellschaft. Battaglia lieferte mit ihren Kollegen den internationalen Medien die repräsentativen Bilder der Mafia-Gewalttaten. Sie empfand sich manchmal wie ein bewegliches Leichenschauhaus. „Suddenly I had an archive of blood“ äußerte sie in einem Interview.
Battaglias Bilder sind auch in Corleone zu sehen, der berüchtigten Mafia-Hohburg, dem Synonym für die Cosa Nostra. Der Stadt, die Fremden nichts zu bieten hat, als ihren Mafia-Mythos. Und das CIDMA, das Dokumentationszentrum für die Geschichte der Mafia und der Anti-Mafia-Bewegung, in dem auch die Akten des Maxiprozesses aufbewahrt werden.
La bellezza e l’inferno, die Schönheit und die Hölle, zwischen diesen Extremen liegt Sizilien. Tra due mondi, zwischen zwei Welten.