Ich habe ein Fußball-Trauma und das hat mit Italien zu tun. Seine Entstehung reicht weit zurück, an den Anfang des Jahrtausends. Davor war ich einfach nur Fan der Mannschaft, wie sich die deutsche Nationalmannschaft heute nennt. Die Länderspiele und vor allem die großen Turniere habe ich begeistert geschaut, beim damaligen „Rumpelfußball“ galt es, nicht so genau hinzusehen, Hauptsache die Ergebnisse stimmten, was sie ja meistens auch taten. Ich habe als Studentin die WM 1990 im Kreise meiner Freunde gesehen, sowas wie Publicity Viewing gab es damals ja noch nicht. Wir liebten insgeheim die Italiener, was auch mit unserer italienischen Freundin in der Runde zu tun hatte. Der Sizilianer Totò Schillaci war damals Torschützenkönig und wir bejubelten jeden seiner Treffer. Er war unser heimlicher Held. Der spätere deutsche Finalgegner Argentinien hatte die Gastgeber der WM dann nach einem Elfmeterschießen aus dem Turnier gekickt und deshalb unterstützten die Italiener dann uns Deutsche im Finale.
Nachdem wir alle gemeinsam den Pokal gewonnen hatten, ging’s in einer Art Autocorso in München ab in die nächste Kneipe. Meine Fußballwelt war damals noch in Ordnung, auch wenn dann ziemlich lange Jahre des Rumpelfußballs folgten. Bis zur WM 2002, und hier wird jetzt die Geschichte langsam spannend.

Mein Trauma entwickelte sich ab da schleichend. Denn es passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Ich hatte plötzlich einen Mann an meiner Seite, der ebenso wie ich Fußball liebte. Allerdings schlug sein Herz für die Azzurri, aber anders, als ich das bisher gekannt hatte. Nicht so, wie damals 1990, als unsere deutsch-italienische Gruppe sich jeweils auch für die anderen freute. Nein, dieser Fan konnte seine Begeisterung für seine Azzurri offenbar nur dadurch ausleben, indem er die deutsche Mannschaft schlecht machte, zumindest in meiner Gegenwart. Ich weiß es nicht mehr genau, es muss die Vorrunde der WM 2002 gewesen sein, als wir gemeinsam mit meinen Kollegen in unserer kleinen Redaktion auf einem schwarz-weiß-Fernseher die Deutschen gegen Irland kicken sahen. Ich sage nur das Stichwort Rumpelfußball, die Iren schossen ein Tor, betretenes Schweigen, Entsetzen, nur einer jubelte für die Kicker von der grünen Insel, ja genau, der Italienfan in unserer Mitte. Ich kannte damals das Wort fremdschämen noch nicht.
Dieser innerfamiliäre Fußballkonflikt dümpelte eine zeitlang so dahin, bis er bei der WM 2006, dem Sommermärchen, dann offen ausbrach. Halbfinale, Dortmund. Die deutsche Mannschaft verlor 2:0, es war das abrupte Ende rauschhafter Fußballwochen. Mein persönlicher Italienfan war an dem Abend zum Glück nicht zu Hause, aber mein kleiner Sohn weinte sich nach der verlorenen Partie die Augen aus. Ich fühlte mich zunächst aufgehoben in der kollektiven Fußballtrauer, die den Verlust erträglicher machte. Und hoffte auf etwas Trost von meinem Partner. Vergeblich.
Was man als Fan halt so braucht… Das blau der italienischen Trikots überzeugt auf dem Rasen modisch am meisten
Nach diesem verlorenen Halbfinale beeinträchtigte mein Fußball-Trauma lange Jahre meine Begeisterung für den Sport. Nicht durch das verlorene Spiel, sondern durch die Häme des besagten Italien-Fans, die im Nachgang keine Grenzen kannte. Das führte soweit, dass er das Finale gegen Frankreich lieber alleine schaute. Und ich gönnte im Gegenzug den Italienern aus tiefster Inbrunst ihren Sieg nicht. So fing das an mit meinem Trauma und wurde in den Jahren danach auch nicht mehr besser, ganz im Gegenteil. Länderspiele wurden zu einem Schlachtfeld dieser Beziehung. Turniere verschafften mir schon Wochen vorher ein mulmiges Gefühl. Panikattacken bekam ich allein bei der Möglichkeit, dass Deutschland gegen Italien antreten muss.
Als Deutschland 2014 Weltmeister wurde, konnte ich die wunderbaren Spiele, die zum Titel führten, alleine schauen, zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Beziehung erübrigt. Aber mein Fußball-Trauma wirkte noch lange nach. Das Unbehagen machte sich auch in den Jahren danach weiter vor vielen Spielen breit.

Aber jetzt ist damit Schluss. Diese EM erlebe ich in Sizilien. Während ich dies schreibe, läuft im Radio das Spiel Italien gegen Wales, draußen ist es ungewohnt still. Die Azzuri gewannen schließlich 1:0. Und was soll ich sagen: Ich freue mich darüber, über ihre beste Vorrunde seit 1939, wenn ich das eben richtig verstanden habe. Sollte Deutschland frühzeitig bei dieser EM ausscheiden, bin ich zwar ein bisschen traurig, aber danach feuere ich die Italiener an. Alles andere macht ja aus der sizilianischen Perspektive auch gar keinen Sinn…
Forza Azzurri! Auch meine Erinnerung an die italienische Nationalelf nahm in 1990 ihren Anfang (habe gestern dazu einen Artikel gebracht) im weiteren Verlauf hatte ich weniger traumatische Erlebnisse, verstehe aber gut, was du meinst. Ich hatte 2014 meine Kollegen im Büro gegen mich, die nach dem Aus der Azzurri dann statt für eine andere Mannschaft, nur noch gegen Deutschland waren. Blöd sowas. Ich hoffe du genießt das Spiel am Sonntag und wir können feiern. Liebe Grüße nach Sizilien aus der Lombardei!
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Der Prosecco steht schon kalt. Die Azzurri hätten es in diesem Jahr einfach verdient 🌞🇮🇹⚽️Auch in die Lombardei herzliche Grüße!
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