Das Moped kam aus dem Nichts. Es schnitt eine Kurve und schoss mitten auf der Fahrbahn auf meinen Wagen zu. Ich erschrak und trat in die Eisen, der Fahrer ebenso. Dabei legte es ihn um und ich spürte irgendeinen Schlag am Auto. Ich stieg aus und war erleichtert, dass der Junge bereits sämtliche sizilianische Flüche vor sich hin sagte. Er stand schon wieder aufrecht und besah sich sein Moped, warf frustriert einen abgebrochenen Metallständer ins Gebüsch am Rand dieser engen Straße, der Strada provinciale 4 in der Provinz Siracusa, SP4.
Ich fragte den Jungen mit dem weizenblonden Haar und dem freundlichen Gesicht besorgt, ob er ok sei, ob wir einen Krankenwagen rufen sollen, aber da war er schon bei meinem Auto, um sich den Schaden daran zu besehen. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Doch dann entdeckte ich das riesige Loch im linken Vorderreifen. Noch mehr Flüche und der Junge weinte. Das ging eine Weile so und ich fragte ihn immer wieder, ob er in Ordnung sei. Ich hoffte, dass irgend ein anderes Fahrzeug kommen und anhalten, Hilfe anbieten würde. Aber auf dieser kleinen, verwunschenen Straße oberhalb Avolas, nahe der Cava Grande di Cassibile, die sich durch ein zauberhaftes, einsames Naturschutzgebiet schlängelt, schienen wir beide im Licht der tief stehenden Sonne als einzige unterwegs gewesen zu sein. Der Junge wusste vermutlich, dass auf der SP4 ohnehin niemand fährt.
Als er sich wieder etwas gefasst hatte, fragte er, ob ich einen Ersatzreifen hätte, den würde er mir hinschrauben. Eigentlich hätte ich, so die Regeln, den Pannendienst des Mietwagenbüros anrufen müssen, aber dort oben gab es kein Netz und irgendwie wollte das der Junge ohne Namen auch nicht. Er beteuerte, dass er den Reifen wechseln könne. Es war dann zwar Knochenarbeit für ihn, mit dem Pannenwerkzeug das Auto in die Höhe zu wuchten. Ich selbst kam mir in diesen endlos langen Minuten unwirklich vor.
Als der Junge mit seiner Arbeit fertig war, wollte ich seinen Namen wissen, seine Adresse, eine Handynummer. Nichts davon gab er mir preis. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich diese Daten für den Vermieter bräuchte und für die Versicherung und dass ich eigentlich auch die Polizei rufen müsste. Da wurde er wieder weinerlich. Er habe keinen Wohnsitz, meinte er, er habe auch keine Papiere. Aber wie ein illegaler Einwanderer wirkte er mit seinem breiten sizilianischen Dialekt auf mich nun wirklich nicht. Ich insistierte also. Da wurde er ärgerlich. Er meinte, dass das ja ohnehin alles die Versicherung zahlen würde und dass er jetzt einfach wegfahren würde.
Panik stieg in mir auf. Langsam wurde es dunkel. Ich hatte noch mindestens 20 Kilometer bis Noto. Und keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Schließlich näherte sich doch noch ein Auto, hielt an. Ein älteres Paar saß darin und ich hoffte, dass das jetzt möglicherweise die Großeltern des Jungen ohne Namen sein könnten. Aber auch die alten Herrschaften wollten mir nicht sagen, wer sie sind. Sie gaben mir indes unmissverständlich zu verstehen, dass ich den Jungen in Ruhe lassen solle. Er habe mir doch den Reifen gewechselt und überhaupt könnten sie der Polizei ja sagen, ich sei es gewesen, die zu weit links gefahren war. Die Panik wurde stärker und deshalb schlug ich vor, doch die Carabinieri zu rufen, die könnten den Sachverhalt ja klären. „So machen wir das in Sizilien nicht!“ Das war nicht nur eine Feststellung des freundlich wirkenden alten Mannes. Das war ein Befehl. Die Frau neben ihm wurde gleichzeitig laut, so laut, dass ich sie bat, leiser zu sprechen, es gäbe sicher eine Lösung. Die Sizilianer seien nun mal emotional, meinte sie ungerührt, so als ob diese Ausbrüche unverzichtbarer Teil jedes Alltagsdramas seien.
Hilflos blickte ich mich um. Es war schon fast Nacht, aber dass das Moped des Jungen kein Nummernschild hatte, konnte ich in dem Moment noch erkennen. Die Frau redete weiter auf mich ein, ich verstand höchstens die Hälfte. Die Stille rings um mich herum und nur die Frau, die unaufhörlich plärrte, ich würde das Leben des Jungen zerstören, mir wurde plötzlich alles egal.
Vielleicht hätte ich das Leben des weizenblonden Jungen mit dem freundlichen Gesicht unweigerlich zerstört, wenn ich die Polizei gerufen hätte. Vielleicht wäre der Junge festgenommen worden, weil er ohnehin wegen etwas anderem gesucht wird. Geld, so schien es mir, hätte er ohnehin keines gehabt, um für den Schaden aufzukommen. Für ihn war die Sache erledigt, als das Notrad aus dem Kofferraum montiert war. Vielleicht hätten die Carabinieri Spaß daran gehabt, einen weiteren armen Teufel dingfest zu machen, währenddessen sie an den großen Fischen geflissentlich vorbei schauen. Wer weiß das schon?
„Jetzt machen wir es wie in Sizilien“, gab ich schließlich nach. Was soll‘s? Correctness hat hier in den hintersten Winkel der Monti Iblei kein Durchsetzungsvermögen. Vielleicht ist das gut so, vielleicht ist es schlecht, wer weiß das schon? Wer weiß hier schon irgendwas, außer dass vermutlich am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht?
Wir vier gaben uns die Hände, besiegelten unseren Deal. Namen wurden keine gewechselt. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, doch alle drei Sizilianer strahlten. Der Junge setzte sich fröhlich auf sein Moped, warf den Motor an und verschwand wieder im Nichts.