Picking up Syracuse

Gemäß einer Schätzung der britischen Tageszeitung The Guardian nahmen im Jahr 2016 weltweit rund 24 Millionen Passagiere auf 220 Schiffen an einer Kreuzfahrt teil. Im Jahr 2010 waren es rund 19 Millionen Passagiere. Im Jahr 2019 erreichte das Kreuzfahrtgeschäft in Deutschland seinen bisherigen Höhepunkt: 2 943 400 Passagiere wurden vor der Pandemie gezählt.

Diese Kreuzfahrer schippern, besser kreuzen über die Meere, von Hafen zu Hafen, sammeln die Namen der schönsten Städte wie früher Briefmarken aus fernen Ländern. Und seitdem Venedig die Riesenpötte nicht mehr so gerne vor dem Markusplatz liegen haben will, kommen sie scheinbar jetzt geballt nach Siracusa.

Wenn die Luxusyachten weg sind, die im Sommer vor dem Foro Italico ankern, nehmen die Kreuzfahrtschiffe ihren Platz ein. Zum Glück lässt der Naturhafen nur relativ kleine Exemplare zu, aber wenn derer vier hier gleichzeitig anlegen, wird es in den Gassen der Ortigia eng.

Der Reiz dieses Massentourismus erschließt sich mir nicht. Im Gänsemarsch trotten die Menschen irgendwelchen Reiseführerinnen und -führern nach, die oberflächliche Dinge über die Orte erzählen. Wahrscheinlich wissen sie, dass ihnen ohnehin niemand zuhört, denn die modernen Kreuzfahrer, die sie in ihrem Schlepptau haben, erobern sich die Städte mit ihrem Handy.

Anstatt sich den grandiosen Duomo mit eigenen Augen anzuschauen und seine Großartigkeit zu bestaunen, schieben sie zwischen sich und die Wirklichkeit den Mini-Bildschirm ihrer Smartphones. Sie verkleinern die überwältigende Schönheit der Piazza Duomo auf 10 mal 20 Zentimeter. Dank der GPS-Daten auf den Fotos können sie hoffentlich später an der Bar ihres Riesenschiffes auseinanderhalten, wo sie gewesen sind.

„We picked up Syracuse“, hat ein älterer Mann heute zu seinem Mitreisenden gesagt, so als ob seine Gruppe Siracusa erobert hätte. Mich hat das ein bisschen an die Kreuzritter im Mittelalter erinnert, die auf ihren mit Kruzifixen bemalten Schiffen in ihre von der lateinischen Kirche sanktionierten, strategisch, religiös und wirtschaftlich motivierten Kriege gezogen sind, um Jerusalem für die Christenheit zu erobern.

Das war selten von Erfolg gekrönt. Oft hinterließen die Kreuzritter auf ihrem Weg Verwüstung und Tod. Dass sich auch ein gewisser Herr P. aus Russland derzeit auf einem Kreuzzug wähnt, gibt der touristischen Massenveranstaltung auch sprachlich einen noch etwas faderen Beigeschmack.

Ganz so schlimm sind die modernen Kreuzfahrer gewiss nicht, aber ihr Tun wird schon lange kritisch beäugt. Die Frage ist doch: Wie viele von diesen Schiffen erträgt eine Stadt? Venedig hat durchlitten, welche Auswirkungen Kreuzfahrten haben können. Das muss Siracusa ja nicht nachmachen. Hoffe ich jedenfalls. Inständig. So inständig, dass ich den Eintritt in den Duomo zahle, um eine Kerze dafür anzuzünden. Und einen Moment Ruhe vor den Kreuzrittern da draußen zu haben.

Il notaio

C‘era una volta in Sicilia…

Der Notar war an diesem fortgeschrittenen Freitag Nachmittag viel zu spät. Selbst für sizilianische Verhältnisse, wo eine halbe Stunde im Angesicht der Jahrtausende langen Geschichte dieser Insel nichts ist als ein Wimpernschlag. Die Uhrzeit, die sie auf Eintrittskarten drucken, ist oft nicht mehr als ein vager Anhaltspunkt.

Il notaio hatte sich also selbst für eine Insel, auf der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oft das Selbe sind, so sehr verspätet, dass seine Gehilfin sich bemüßigt fühlte, den Wartenden eine kleine Information zu geben. Der dottore sei soeben in Augusta losgefahren, in zwanzig Minuten, allerspätestens, werde er sicher eintreffen, beruhigte sie die Menschen in der Kanzlei. Zwei Parteien warteten in dem von außen unscheinbar wirkenden Büro im ersten Stock über einem Restaurant am Corso Vittorio Emanuele.

Obwohl erst Anfang März, war es stickig. Vielleicht kam das von den staubigen Aktenbergen, die sich überall türmten. Vermeintlich wahllos abgelegt, ohne System, in den Schränken, auf den Tischen, an den Wänden, auf dem Boden. Aus manchen quoll vergilbtes brüchiges Papier. Eine endlose Flut an Dokumenten schien sich seit der Neugründung Notos im späten 17. Jahrhundert in diese Kanzlei ergossen zu haben.

Die blutrote Farbe der Notariatswände blätterte vor sich hin, schwere Sitzmöbel standen unbeachtet in den großzügigen Räumen. Die Wartenden blieben stehen, beachteten die jeweils andere Gruppe nicht. Ein wenig Ungeduld hatte sich mittlerweile auch zu ihnen gesellt.

Dass es unmöglich sein würde, in zwanzig Minuten vom rund 40 Kilometer entfernten Augusta nach Noto zu gelangen, war jedem im Raum klar. Den drei oder vier Anzugträgern mit Sonnenbrillen ebenso wie dem Trio, das nichts Miteinander gemein hatte, als die Überschreibung eines winzigen Häuschens in Noto alta: ein Makler, ein bei Grundstücksgeschäften mit Ausländern vom italienischen Staat vorgeschriebener Dolmetscher und eine bereits leicht verunsicherte Deutsche, die am nächsten Tag wieder zurückfliegen musste. Ein Scheitern war für diese drei ausgeschlossen.

Die deutsche Frau versuchte, sich die in ihr aufkeimende Panik nicht anmerken zu lassen. In ihrem Rucksack hatte sie zwei Barschecks, die sie am Vormittag in der sizilianischen Bank abgeholt hatte. Diese sollte sie dem Notar zu Händen der Verkäuferin übergeben und damit wäre der Kaufvertrag rechtskräftig. Würde sie die beiden Papierfetzen verlieren, wäre ihr gesamtes Geld weg. Außerdem machte sie das zusätzliche dicke Bündel Banknoten nervös, das der Makler nach erfolgreichem Abschluss der Mission von ihr ausgehändigt haben wollte. Vom notaio, davon ging die Frau wie selbstverständlich aus, würde sie später eine Rechnung erhalten, die sie überweisen könnte, schließlich befand sie sich in einer Amtsstube in der Europäischen Union, wenn auch so ziemlich am letzten Zipfel davon.

Die verrinnende Zeit schien die Sizilianer nicht zu stören, wenn auch die gut aussehenden Männer mit den Sonnenbrillen und den schicken Anzügen immer lauter redeten. Auch der Makler und der Dolmetscher waren in ein Gespräch vertieft. Sie berieten, wo es in Noto den besten frischen Fisch gäbe. Die deutsche Frau verstand kaum etwas von diesem weichen Singsang um sie herum, der in ihren Ohren wie Arabisch klang. Ihre paar Brocken Italienisch halfen ihr in dieser Situation Null Komma nichts.

Die Gehilfin des Notars bot caffè an, den sie in der Zwischenzeit aus der Bar gegenüber geholt haben musste, und versicherte ein weiteres Mal: Il dottore sta arrivando. Draußen auf dem Corso wurde es bereits dunkel, die Kronleuchter weit oben an der bröckelnden Stuckdecke wurden trotzdem nicht angeschaltet. Der deutschen Frau war, als ob sie mittlerweile ihr halbes Leben in diesem immer düsterer werdenden sizilianischen Notariat verbracht hätte. Sie fühlte sich unsichtbar, ausgeliefert.

Sei’s drum, dachte sie. Hauptsache bald raus aus dieser unwirklichen Situation. Was sie ihrem Mann, der zu Hause in Deutschland auf sie wartete, sagen würde, das zu überlegen wäre morgen im Flugzeug noch Zeit, glaubte sie. Oder sie würde besser gar nicht mehr zurückkehren, einfach verschwinden, nach dieser sich anbahnenden sizilianischen Pleite. Sich so die wahrscheinlichen Vorwürfe ersparen, zu unfähig gewesen zu sein für diese winzige Kleinigkeit, in Sizilien einen Kaufvertrag zu unterschreiben und mit aussagekräftigen Dokumenten zurückzukommen.

Während sie noch darüber sinnierte, wie sie sich überhaupt in diese Lage manövriert hatte, traf der Notar ein. Er fegte in die Kanzlei, mit einer Selbstverständlichkeit, die jede Entschuldigung seinerseits überflüssig machte. Während er die Männergesellschaft wie ziemlich beste Freunde in seinem Reich willkommen hieß, hatte er für das ungleiche Trio nur ein Stirnrunzeln übrig. Der Makler erklärte höflich sein Ansinnen, das offenbar so unbedeutend war, dass es der Notar schlicht vergessen hatte.

Die deutsche Frau verzweifelte. Es wurde laut gestikuliert, bis sich der Amtmann schließlich erweichen ließ, den atto legale trotz der nicht vorhandenen Vorbereitungen über die Bühne zu bringen. Vielleicht hatte er auch nur ein wenig Mitleid mit der Deutschen. Aber etwas Geduld noch, bat er. Seiner Gehilfin trug er etwas unverständliches auf, sie verschwand daraufhin in einer Kammer.

Die Männer mit den Sonnenbrillen waren dem dottore scheinbar wichtiger. Es wurde in diesem Teil der Kanzlei wieder laut. Der Notar ließ sich von den aufgebrachten Klienten nicht beeindrucken. Der Herrscher in diesem Reich war er allein. Nichts fand in seinem Notariat am letzten Zipfel der Europäischen Union hinter verschlossenen Türen statt.

Die Gehilfin trat wieder ein, mit einem kleinen Stapel Papier. Und damit wurde es doch noch ernst für die deutsche Frau. Der Notar fing an, den Vertrag zu verlesen. Während der Dolmetscher die obligatorische deutsche Übersetzung vortrug, verließ der Dottore den Raum, um im anderen seine Geschäfte mit den Sonnenbrillenträgern voranzutreiben. Kam wieder zurück, um der Deutschen die nächste Passage vorzulesen, die sie ohnehin nicht verstand. Und so weiter und so weiter. Bis es an die Unterschrift ging.

Endlich schien für die Frau der entscheidende Moment gekommen zu sein, sie würde ihren Namen unter das linierte, mit Schreibmaschine getippte Dokument setzen und dann wäre alles gut und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch glücklich und so weiter und so weiter und so fort…

Das wäre ein schönes Ende dieses Märchens gewesen, aber der Notar rief erneut seine Gehilfin zu sich. Statt der deutschen Frau sollte nämlich sie ihren Namen unter den Vertrag setzen. Die deutsche Frau verstand die Welt nicht mehr, wollte sich dagegen wehren. Der Makler und der Dolmetscher redeten schnell beruhigend auf sie ein und erklärten, dass das das Normalste auf der sizilianischen Welt sei und dass sie vertrauen solle.

Vertrauen oder nicht vertrauen, sie hatte ja gar keine Wahl mehr und legte deshalb ihr Schicksal in die Hände dieser Fremden. Die Gehilfin unterschrieb, der Barscheck wechselte den Besitzer. Und der Notar wollte sein Geld. Subito. Cash.

Die Summe, die er nannte, war zwar weniger, als erwartet, aber doch viel mehr, als die deutsche Frau noch aus ihrem Rucksack kramen konnte. Der Makler wollte schließlich später auch noch zu seinem Lohn kommen an diesem bereits sehr weit fortgeschrittenen Abend.

Vertrauen beruht in Sizilien auf Gegenseitigkeit, ein Handschlag genügt. No problema, beruhigte il notaio deshalb die deutsche Frau, sie solle zahlen, wenn sie das nächste Mal in der Stadt sei. Er schrieb eine Zahl auf den Aktendeckel, in den er das linierte Papier gelegt hatte und dieser verschwand schließlich in der Flut der Dokumente, die die Jahrhunderte in dieses Büro gespült hatten. Buona sera, wünschte er freundlich der verwunderten Frau, und das war’s.

Für die deutsche Frau gab es nichts, keine Kopie, keine Rechnung, rein gar nichts außer einen Schlüssel. In einem letzten verzweifelten Versuch, etwas von ihrer germanischen Gründlichkeit zu retten, bat sie den Makler nach dem Verlassen des Notariats, kurz zu dem Haus zu fahren, um zu sehen, ob der Schlüssel wirklich passte. Der Makler gewährte ihr diesen Wunsch, nicht ohne aber auf dem Weg nach Noto alta in einen unbeleuchteten Parkplatz abzubiegen.

Sie rechnete gar nicht mehr mit dem Schlimmsten, sie ging vom Schlimmsten aus. Deshalb war sie fast erleichtert, als der sympathisch wirkende Makler lediglich sein Geld wollte. Cash, ohne Zeugen, ohne Quittung, natürlich ohne Rechnung. Sie gab es dem Mann ganz selbstverständlich, nach diesem Tag ganz so, als ob sie darin bereits ein Leben lang Übung gehabt hätte. Er steckte die vielen Scheine in die Brusttasche seines edlen Hemdes, einfach so, und sie fuhren weiter.

Und danach? Der Schüssel passte, der Notar erinnerte sich einige Monate später mit dem ersten Griff an die Akte und kassierte sein Geld. Bis heute ist die Gehilfin nicht aufgetaucht, um ihr Haus einzufordern. Die deutsche Frau aber begriff damals, dass sie in Sizilien nicht alles mit ihrer deutschen Gründlichkeit verstehen muss, damit es funktioniert. Im Gegenzug aber, das hat sie an diesem unwirklichen Tag auch gelernt, kann sie den Menschen auf dieser Insel vertrauen. Es braucht oft nicht mal einen Handschlag. Ein Wort genügt. Und so lebt sie seither glücklich unter den Sizilianern. Zumindest einige Monate im Jahr 😉

Un cornetto

Gorbatschow ist zwar ein Politiker und den meisten von dieser Spezies glaube ich ja erst mal gar nichts. Berufskrankheit. Aber ein Satz von ihm hat philosophische Allgemeingültigkeit: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Das lässt sich auf so ziemlich alle Lebensbereiche übertragen. Wer den Moment verpasst, verpasst ihn unwiederbringlich. Oder muss warten auf die nächste Gelegenheit. Sich in Geduld üben, hoffen, dass der entscheidende Augenblick wiederkehren möge, in einer Stunde, in einem Tag, in einem Monat oder im nächsten Jahrhundert. Und manchmal bleibt die Hoffnung auch schlicht unerfüllt.

Wer den richtigen Moment im Panificio Il forno verpasst, wer also zu spät kommt, weil nicht rechtzeitig aufgestanden, weil noch etwas anderes dazwischenkam, etwas vermeintlich wichtigeres, bekommt an diesem Tag kein Cornetto mehr. Womit der Tag nicht so starten kann, wie er starten sollte: mit dem Genuss dieses zwar auf den ersten Blick ganz und gar unspektakulären, aber in seiner Konsistenz einfach perfekten Hörnchens.

Es ist knusprig, ohne zu trocken zu sein oder in seine einzelnen Schichten zu zerbröseln. Sein weicher Kern schmeichelt dem Gaumen, ohne ihn zu verkleben. Der Geschmack ist angenehm neutral und lässt doch eine leichte Note zurück von, ja was eigentlich? Rum? Amaretto? Ich muss beim nächsten Mal fragen… Ein Hauch von Süße entfaltet sich, die sich nicht aufdrängt, einfach angenehm da ist, wie eine gute Freundin.

Aber Obacht: das cornetto verlangt nach voller Zuwendung. Wer hineinbeißt, darf nicht atmen, an nichts anderes denken, muss sich ganz diesem Moment hingeben. Sonst droht ein übler Hustenanfall, ausgelöst durch die weiße Schicht pudrigen Zuckers obenauf, als ob sie darüber wachte, dass dem Gebäck die Aufmerksamkeit zuteil wird, die ihm gebührt.

Carmelo, der Bäcker, weiß sicher, dass es um jeden geschehen ist, der einmal in die unzähligen perfekten Schichten seiner Cornetti gebissen hat. Er weiß vermutlich, dass jeder, der einmal diese sinnliche Erfahrung gemacht hat, immer wieder kommen wird. Und wenn er nicht zu spät war – weil rechtzeitig aufgestanden oder nicht abgelenkt von Nichtigkeiten – mit einem glücklichen Lächeln die Bäckerei verlassen wird. Voller Vorfreude auf die kurze Feuerpause, auf den perfekten Moment, bevor der eigentliche Tag beginnt, die Sonne zu heiß vom Himmel brennt.

Adieu Sehnsucht

Ragusa, mein Sehnsuchtsort, schon seit meiner Kindheit. Es muss mein Vater gewesen sein, der mir von dieser Stadt erzählt hatte. Obwohl er selbst nie dort war. Vielleicht hat er in einem seiner Bücher davon gelesen. Vielleicht habe ich aber auch nur geträumt, mir hätte jemand von Ragusa erzählt. Mit Sizilien habe ich als Kind Ragusa jedenfalls nicht in Verbindung gebracht. Vergessen habe ich den Namen indes nie. Die geheimnisvolle Stadt war plötzlich zum Greifen nah, als ich vor fast 20 Jahren das erste Mal nach Sizilien kam. Aber eben nur zum Greifen nah. Zum ersten Mal wirklich dort war ich erst Jahre später. Und jetzt wieder, um meine rätselhafte Endstation Sehnsucht genauer zu ergründen.

Ragusa Ibla

Es scheint, als ob in Ragusa die Zeit stehen geblieben sei. Auch wenn Jahre zwischen meinen Besuchen liegen, so wirkt Ibla, das Centro storico, immer ein bisschen träge, egal zu welcher Urzeit. Das mag daran liegen, dass hier kaum Autos fahren (dürfen). Oder daran, dass der Weg dorthin beschwerlich ist. Er führt über hunderte Treppen, egal ob man aus dem neuen Ragusa kommt oder von einem der Parkplätze, die, von Kontrolleuren streng bewacht, von den Besuchern angesteuert werden müssen.

Schon am Vormittag ist es heiß, über 30 Grad. Also langsam gehen. Die eine oder andere Pause an einem Trinkbrunnen einlegen. Zuerst will ich zum Aussichtspunkt, von dem aus Ibla ausgebreitet daliegt und der Blick hinaus wandern kann in die bergige Umgebung, die jetzt anfängt, wieder grün zu werden. Der sizilianische Herbst hat seine Fühler ausgestreckt.

Ragusas hügelige Umgebung wird langsam wieder grün. Der sizilianische Herbst hat seine Fühler ausgestreckt.

Mein Aufstieg wird begleitet von einem Opernsänger, der ungesehen aber unüberhörbar eine Arie übt. Ein Klavier begleitet ihn, eine andere Stimme gibt ihm Anweisungen und so versucht der Sänger es immer und immer wieder. Seine Gesang gibt meinem Spaziergang eine entrückte Hintergrundmusik. Ganz oben höre ich dem anonymen Künstler in dem Gebäude mit den vielen Fernsehantennen noch ein bisschen zu und lasse ich mich dabei von einer verwunschenen Villa verzaubern.

Eine verwunschene Villa am höchsten Punkt Iblas.

Die Stimme des unbekannten Carusos begleitet mich noch ein Stück des Weges, bis die Stille sie wieder ganz verschluckt hat. Mein Weg führt mich wieder hinunter, zum Duomo San Giorgio mit seiner prächtigen Freitreppe, die jedoch hinter Gittern eingesperrt ist. Auch diese Kirche gilt als ein Meisterwerk Gagliardis, darunter ging es bei ihm offenbar nicht. Ich komme vorbei an zahllosen romantischen Ecken, nicht umsonst war die Stadt Kulisse für viele Kinofilme. Von der Spaziergängerin fordern jedoch die vielen Treppen Aufmerksamkeit, nur nicht stolpern.

In Ragusa Ibla gibt es viele romantische Gassen und Winkel. Dominiert wird die Kulisse von der blau-gläsernen Kuppel des Duomo S. Giorgio.

Die Altstadt bleibt still, kein quirliges Treiben gibt es hier, nur vereinzelt fahren Autos. Und eine Bimmelbahn, in der nur wenige Touristen sich bequem zu den Höhepunkten der Altstadt bringen lassen. Ich verlasse mich weiter auf meine eigenen Füße, schaue in jenen Winkel, biege in diese Gasse ab. Müßiggang. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich probiere Arancine, koste Granita, dehne meinen Aufenthalt an diesem Ort der Sehnsucht aus. Gelange in einen kleinen Park und nehme unter Schatten spendenden Bäumen Platz.

Dort versuche ich mich zu erinnern an die Geschichten, die mir mein Vater von Ragusa erzählte, von der sizilianischen Stadt, in der er nie gewesen war. Und dann wird mir klar: Er meinte gar nicht das Ragusa, das in Sizilien liegt. Er sprach von Ragusa in Kroatien, der Stadt, die heute Dubrovnik heißt. Die kannte er, in Jugoslawien haben wir, als ich noch ein kleines Kind war, noch bevor Dubrovik im Kroatien-Krieg beschädigt wurde, Urlaub gemacht. Da hat er mir vermutlich erzählt, dass Dubrovnik einst auch Republik Ragusa genannt wurde.

Unwillkürlich muss ich schmunzeln: Wie trügerisch Erinnerung doch sein kann und wie sehr sie trotzdem die Gegenwart beeinflusst. Lächelnd sage ich meiner Endstation Sehnsucht adieu.

Kontrolle mit Aussicht

Sie standen da wie drei Wegelagerer. Oder wie Banditen, denn einer trug ein Maschinengewehr An einem Aussichtspunkt an der SS 188 zwischen Chiusa Scalfani und Giuliana, der uns einen Blick in die wunderschöne Landschaft in dieser Gegend möglich gemacht hätte. Möglicherweise hätten Ben und ich an dieser Stelle auch freiwillig angehalten. Wir waren auf einem Roadtrip durch Sizilien, ohne konkretes Ziel. Sich treiben lassen, unerwartete Abzweigungen nehmen, sowas. Von Corleone aus wollten wir an diesem Abend noch die sizilianische Südküste erreichen. Wenn nicht, auch nicht so schlimm.

Es waren aber drei Carbanieri, die uns also auf den Parkplatz mit der malerischen Aussicht lotsten. Sie waren wie gesagt zu dritt, einer von ihnen sicherte mit seinem Maschinengewehr im Anschlag die Straße, auf der uns seit mindestens einer halben Stunde niemand entgegen gekommen war und hinter uns war in dieser Zeit auch niemand. Wir waren für die Carabinieri also eine willkommene Abwechslung. Die einzige. Derjenige, der das Sagen hatte, wollte dann natürlich erst einmal das Übliche: Führerschein, Fahrzeugpapiere. Letzteres war kein Problem, die lagen im Handschuhfach des gemieteten Fiestas. Mein Führerschein, so war ich felsenfest überzeugt, wäre in meinem Rucksack im Kofferraum. Wie es immer so ist, Nervosität machte sich breit und zuerst glaubte ich, nur wegen meiner Aufregung den blöden Führerschein nicht zu finden. X-mal durchwühlte ich mein schmales Gepäck und konnte ihn nicht finden. Bis ich schließlich einräumen musste, ihn nicht dabei zu haben.

Nach diesem Eingeständnis waren die Carabinieri in ihrem Element. Da fing die Kontrolle erst richtig an. Demonstrativ nahmen zwei von ihnen den Wagen in Augenschein, den Kofferraum, umrundeten unser Auto mehrfach. Verlangten einen Ausweis, auch von Ben, meinem Beifahrer. Nahmen die Dokumente an sich, gingen zu ihrem dunkelblauen Fahrzeug, holten ein iPad raus und fingen an, sie auf ihre Echtheit zu überprüfen und zu checken, ob wir möglicherweise gesuchte Verbrecher oder Terroristen oder Illegale sein könnten. Der Dritte mit dem Maschinengewehr fixierte uns währenddessen aufmerksam, immer seine Waffe im Anschlag. Nur nicht nervös werden…

Die Überprüfung dauerte. Ziemlich lange. Endlos lange. Sämtliche Verfehlungen der letzten zehn Jahre gingen mir durch den Kopf, alle Schwierigkeiten, die ich in Sizilien nicht lösen konnte, weil mich die dafür zuständigen Behörden von Amtsstube zu Amtsstube geschickten hatten, wo ich immer nur die selbe Antwort bekam: „Non lo so! – ich weiß nicht!“ Irgendwann verabschiedete mich von meinem deutschen Wunsch, alles korrekt zu regeln. Insofern bin ich jetzt also doch in gewisser Weise eine illegale Einwanderin.

Dort oben auf dem malerischen Aussichtspunkt war ich mir sicher, dass das jetzt alles raus kommen würde, weil wir ja bei keinem Beherbergungsbetrieb offiziell gemeldet waren. Möglicherweise könnten wir uns mit dem Meldezettel aus der Pension in Palermo, die wir am Morgen verlassen hatten, irgendwie retten und mit dem Hinweis, dass wir und für den Abend erst etwas suchen müssten. Das legte ich mir als Ausrede zurecht, wenn ich gefragt werden sollte, wo dieses Ferienhaus denn sei, in dem ich meinen Führerschein vergessen hatte. Immer mehr Ausflüchte dachte ich mir aus, während ich versuchte, mit den Carabinieri Small Talk zu machen. Versuchte, ein bisschen Charme spielen zu lassen. Der Typ mit der Waffe reagierte darauf natürlich nicht. Er versuchte sich in einem undurchdringlichen Blick. Der andere fuchtelte im Polizeiauto und davor mit seinem iPad rum, auf der Suche nach Empfang, während der Wortführer durchaus einem kleinen Plausch mit mir nicht abgeneigt war.

Er wollte wissen, ob ich Italienerin sei. Zuerst dachte ich, der wolle mich verarschen, fragte ihn, wie er auf diese abseitige Idee käme. Na ja, meine Vornamen im Ausweis, antwortete er: Martina Angela, da gebe es ja sicher einen italienischen Papa oder eine sizilianische Mama. Nun, nein, nicht. Aber meine rätselhafte Verbundenheit mit dieser Insel, mit diesem Land scheinen mir meine Eltern wohl schon mit meinen Namen in die Wiege gelegt zu haben.

Als ich ihn fragte, ob es Probleme mit unseren Papieren gebe, meinte er nur, nein, soweit erstmal nicht, er wisse es aber nicht, denn die Übermittlung an irgendeinen Interpol- oder wer-weiß-welchen-Server dauere. Das Internet hier in der Gegend sei einfach nur „lentissimo“. Aber wir könnten ja die Zeit nutzen, um die wunderbare Gegend zu genießen (mit Maschinengewehr im Rücken).

Gefühlte Stunden später bekamen die sizilianischen Ordnungshüter dann ihre Auskunft: Sie hatten es bei uns nicht mit gesuchten Straftätern zu tun. Oder sie gaben vor, ihre Auskunft bekommen zu haben, denn das Internet war hier gar nicht vorhanden, es gab hier oben überhaupt kein Netz, wie mir ein verstohlener Blick auf mein Handy bewies. Wir durften also weiter. Allerdings, so die Bedingung, durfte ich nicht mehr hinters Steuer. Ben fuhr also weiter, so dass ich in aller Ruhe vom Beifahrersitz aus die wunderbare Landschaft an mir vorbei ziehen lassen konnte.

„Ihr habt doch keine Ahnung!“

Als uns der höllische Verkehr in Palermo ausgespuckt hatte, atmeten wir erst einmal auf. Unser erstes Ziel an diesem Tag war Corleone, die berühmt-berüchtigte Mafia-Stadt gut 60 Kilometer im Landesinneren. Schnell hatten wir die mediterrane Landschaft am Tyrrhenischen Meer hinter uns gelassen und waren im Vorgebirge, das an diesem schwülen und trüben Tag einen fast bedrohlich wirkte. Die an die 1000 Meter hohen Berge lagen zum Teil in den Wolken, aus denen es aber nicht regnete.

An die 1000 Meter hohe Berge liegen an der Route nach Corleone.
Die Stoppeln auf den abgeerntete Weizenfeldern rund um Corleone werden abgebrannt.

Dass der trockene Sommer zu Ende gegangen war, sah man an dem grünen Flaum, der allerorten sprießte. Dennoch lagen die abgeernteten Weizenfelder noch goldgelb da. Manche waren bereits umgepflügt oder die Stoppeln darauf verbrannt worden. Ben wies mir mit der Karte den Weg. Die Route, die er ausgesucht hatte, führte über die SS 121 zunächst bis Bolognetta, dann auf der 118 weiter in Richtung Corleone.

Die Landschaft wurde immer rauer, unbesiedelter. Links von uns lag der Bosco della Ficuzza Rocca Busambr und bot atemberaubende Ausblicke. Und dann waren wir in Corleone, wo wir am Nachmittag des selben Tages eine Verabredung im CIDMA hatten, dem Dokumentationszentrum für die Geschichte der Mafia und der Anti-Mafia-Bewegung, in dem auch die Akten des Maxiprozesses aufbewahrt werden. Allerdings waren wir viel zu früh, auch weil wir am Vormittag Letizia Battaglias Foto-Zentrum nicht mehr besuchen konnten.

Corleone empfängt seine Besucher nicht mit offenen Armen.

Corleone empfing uns nicht mit offenen Armen. Es war noch nicht ganz Mittagszeit und trotzdem wirkte der Ort wie ausgestorben. Wie also die Zeit nutzen? Ben schlug vor, nach Borgo Schirò zu fahren. Das verlassene Dorf hatte Mussolini bauen lassen. Der Duce bekämpfte das System der Mafia, vor allem aber brauchte er Nahrungsmittel für seine Raubzüge in Afrika. Um dieses Ziel zu erreichen, ließ er ungenutztes Land an landlose Bauern übereignen. Für sie wurden teilweise sogar Dörfer neu gegründet. Eines von ihnen, der Borgo Schirò vor den Toren Corleones. Die Ernte, die der faschistische Diktator mit seinen Aktivitäten gegen die Mafia einfuhr, waren nicht besonders „nachhaltig“: Nach seinem Ende erholte sich die Verbrecherorganisation sehr schnell von den Schlägen und Mussolinis Dörfer wurden zu Geisterstädten.

Borgo Schirò zehn Kilometer außerhalb Corleones, ist eines der Geisterdörfer Mussolinis.

Borgo Schirò also, das hieß, auf die SP 4 abbiegen. Der Hinweis kurz darauf, dass hier die befahrbare Straße ende, ignorierten wir geflissentlich. Als das erste Stück aufgerissener Asphalt sich vor uns auftat, dachten wir: „Ok, ist halt Sizilien.“ Unser Ziel vor Augen fuhren wir weiter auf einer Piste, die sich zu einem Weg entwickelte, der nicht einmal einem schlecht hergerichteten Feldweg entsprach. Scharfe Kanten, riesige Schlaglöcher, weggebrochene Bankette — und hinter uns ein Lkw. Hupend. Wir also in unserem Ford Fiesta, gejagt von einem Laster. An der nächsten Möglichkeit hielten wir an, um ihn überholen zu lassen. Wüstes Geschimpfe ernteten wir zum Dank. Sein Ziel war das Weingut Principe die Corleone, das hochmodern hier inmitten dieser unerschlossenen Kargheit Siziliens prämierte Tropfen anbaut.

SP 4

Im Schneckentempo also weiter, bis rechts von uns Borgo Schirò auftauchte. Eigentlich hätte es laut Karte links von uns liegen müssen. Wieder so ein Mysterium. Das golden schimmernde Kirchdach rückte näher, blieb aber unerreichbar, denn es gab keinen Abzweig. Es gab eine Staubpiste, die nach unseren Erfahrungen mit der SP 4 keinen guten Eindruck auf uns machte. Sollten wir es riskieren? Liegenzubleiben, von einem Schlagloch verschluckt zu werden? Außerdem verrann die Zeit, wir hatten eine Verabredung einzuhalten. Zudem zogen schwarze Wolken auf und die SP 4 während eines Wolkenbruchs zu bewältigen erschien uns ausgeschlossen. Wir fuhren trotzdem noch ein Stückchen weiter, um eine Wendemöglichkeit zu finden. Und dann überraschte und die surreale Landschaft ein weiteres Mal: Auf einer Insel, die im Sommer vor Trockenheit fast zu Staub zerfällt, plätscherte mitten in dieser Ödnis ein Wasserhahn in ein türkisfarben ausgemaltes Becken.

Auf einer Insel, die im Sommer vor Trockenheit fast zu Staub zerfällt, plätschert mitten im Nirgenwo Wasser in ein türkis ausgemaltes Becken.

Fast eine Stunde hatten wir für die zehn Kilometer auf der SP 4 gebraucht, genauso lange dauerte der Weg zurück. Corleone war nach diesem Ausflug genauso unwirtlich wie vorher und warum Reiseführer davon sprechen, dass es in der 11000-Seelen-Gemeinde vor Touristen wimmelt, blieb uns ein Rätsel. Immerhin blieb uns noch Zeit für ein kurzes Mittagessen. Streetfood pries die Bar an, aber unter Streetfood verstand der Inhaber ausschließlich Pizza. Und weil er einer der wenigen war, die überhaupt geöffnet hatten, verlangte er entsprechende Preise. Keine Ahnung, ob nur von uns oder von allen. Wir nahmen das einfach hin.

„Streetfood“ Corleonese

Später trafen wir uns dann mit einer Mitarbeiterin des Mafia-Dokumentationszentrums, die uns in immer wieder neuen und emotionalen Worten versicherte, dass Corleone heute nicht mehr das Corleone von früher sei und auch nichts zu tun habe mit dem Film, der den Namen der Stadt weltweit berühmt gemacht hat. Die Bewohner würden sich klar davon distanzieren. Sie wiederholte ein ums andere Mal, dass heute über das, was die Mafia über Jahrzehnte in Corleone, ganz Sizilien, auf der ganzen Welt angerichtet hat, offen gesprochen werde, dass Corleone seine Vergangenheit überwunden habe und dass nur eines helfe, dass es nie wieder zu einem Rückfall kommt: „Noi insieme“, wir alle müssten unseren Teil dazu beitragen, dass das Schweigen über die Existenz der Mafia nie wieder wie eine dicke Decke Corleone, Sizilien, die ganze Welt ersticke. Ben überzeugte das nicht. Die junge Sizilianerin wiederhole in Endlosschleifen Floskeln, ohne etwas Konkretes zu sagen, kritisierte er.

Im Mafia-Dokumentationszentrum in Corleone werden Akten des Maxi-Prozesses in Palermo aufbewahrt.
La Voce della Sicilia: Letizia Battaglia, erste Fotoreporterin Italiens, dokumentierte die Verbrechen der Mafia. Bilder von ihr dokumentieren im CIDMA die Brutalität der Morde und deren Symbolik.

Wir schauten uns dann noch eine Weile die Fotos Letizia Battaglias an, die wir am Vormittag in Palermo verpasst hatten. Die Bilder der brutalen Verbrechen mit ihrer grausamen Symbolik. Wir studierten die Namen auf den dicken Aktendeckeln. Und als wir dann wieder ins Freie traten, verabschiedeten wir uns von der Mitarbeiterin, die bereits wieder gelangweilt in ihr Handy starrte.

Allen Beteuerungen zum Trotz, Corleone wolle seine Mafia-Vergangenheit hinter sich lassen, werden noch immer die entsprechenden Touristen-Souvenirs verkauft.

Draußen wirkte Corleone auf uns noch immer unzugänglich, abweisend. Wir kauften noch ein paar Postkarten in einem kleinen Laden, dessen Inhaber wortlos das Geld entgegennahm. Aller Beteuerungen der jungen Mitarbeiterin im CIDMA zum Trotz gab es hier auch Mafia-Kitsch. Die Anmutung war so, als ob die Chefs hinter den geschlossenen Fenstern uns zurufen würden: „Non ne hai idea – Ihr habt doch keine Ahnung!“

„No ne hai idea!“

The Boy without name

Das Moped kam aus dem Nichts. Es schnitt eine Kurve und schoss mitten auf der Fahrbahn auf meinen Wagen zu. Ich erschrak und trat in die Eisen, der Fahrer ebenso. Dabei legte es ihn um und ich spürte irgendeinen Schlag am Auto. Ich stieg aus und war erleichtert, dass der Junge bereits sämtliche sizilianische Flüche vor sich hin sagte. Er stand schon wieder aufrecht und besah sich sein Moped, warf frustriert einen abgebrochenen Metallständer ins Gebüsch am Rand dieser engen Straße, der Strada provinciale 4 in der Provinz Siracusa, SP4.

Ich fragte den Jungen mit dem weizenblonden Haar und dem freundlichen Gesicht besorgt, ob er ok sei, ob wir einen Krankenwagen rufen sollen, aber da war er schon bei meinem Auto, um sich den Schaden daran zu besehen. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Doch dann entdeckte ich das riesige Loch im linken Vorderreifen. Noch mehr Flüche und der Junge weinte. Das ging eine Weile so und ich fragte ihn immer wieder, ob er in Ordnung sei. Ich hoffte, dass irgend ein anderes Fahrzeug kommen und anhalten, Hilfe anbieten würde. Aber auf dieser kleinen, verwunschenen Straße oberhalb Avolas, nahe der Cava Grande di Cassibile, die sich durch ein zauberhaftes, einsames Naturschutzgebiet schlängelt, schienen wir beide im Licht der tief stehenden Sonne als einzige unterwegs gewesen zu sein. Der Junge wusste vermutlich, dass auf der SP4 ohnehin niemand fährt.

Als er sich wieder etwas gefasst hatte, fragte er, ob ich einen Ersatzreifen hätte, den würde er mir hinschrauben. Eigentlich hätte ich, so die Regeln, den Pannendienst des Mietwagenbüros anrufen müssen, aber dort oben gab es kein Netz und irgendwie wollte das der Junge ohne Namen auch nicht. Er beteuerte, dass er den Reifen wechseln könne. Es war dann zwar Knochenarbeit für ihn, mit dem Pannenwerkzeug das Auto in die Höhe zu wuchten. Ich selbst kam mir in diesen endlos langen Minuten unwirklich vor.

Als der Junge mit seiner Arbeit fertig war, wollte ich seinen Namen wissen, seine Adresse, eine Handynummer. Nichts davon gab er mir preis. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich diese Daten für den Vermieter bräuchte und für die Versicherung und dass ich eigentlich auch die Polizei rufen müsste. Da wurde er wieder weinerlich. Er habe keinen Wohnsitz, meinte er, er habe auch keine Papiere. Aber wie ein illegaler Einwanderer wirkte er mit seinem breiten sizilianischen Dialekt auf mich nun wirklich nicht. Ich insistierte also. Da wurde er ärgerlich. Er meinte, dass das ja ohnehin alles die Versicherung zahlen würde und dass er jetzt einfach wegfahren würde.

Panik stieg in mir auf. Langsam wurde es dunkel. Ich hatte noch mindestens 20 Kilometer bis Noto. Und keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Schließlich näherte sich doch noch ein Auto, hielt an. Ein älteres Paar saß darin und ich hoffte, dass das jetzt möglicherweise die Großeltern des Jungen ohne Namen sein könnten. Aber auch die alten Herrschaften wollten mir nicht sagen, wer sie sind. Sie gaben mir indes unmissverständlich zu verstehen, dass ich den Jungen in Ruhe lassen solle. Er habe mir doch den Reifen gewechselt und überhaupt könnten sie der Polizei ja sagen, ich sei es gewesen, die zu weit links gefahren war. Die Panik wurde stärker und deshalb schlug ich vor, doch die Carabinieri zu rufen, die könnten den Sachverhalt ja klären. „So machen wir das in Sizilien nicht!“ Das war nicht nur eine Feststellung des freundlich wirkenden alten Mannes. Das war ein Befehl. Die Frau neben ihm wurde gleichzeitig laut, so laut, dass ich sie bat, leiser zu sprechen, es gäbe sicher eine Lösung. Die Sizilianer seien nun mal emotional, meinte sie ungerührt, so als ob diese Ausbrüche unverzichtbarer Teil jedes Alltagsdramas seien.

Hilflos blickte ich mich um. Es war schon fast Nacht, aber dass das Moped des Jungen kein Nummernschild hatte, konnte ich in dem Moment noch erkennen. Die Frau redete weiter auf mich ein, ich verstand höchstens die Hälfte. Die Stille rings um mich herum und nur die Frau, die unaufhörlich plärrte, ich würde das Leben des Jungen zerstören, mir wurde plötzlich alles egal.

Vielleicht hätte ich das Leben des weizenblonden Jungen mit dem freundlichen Gesicht unweigerlich zerstört, wenn ich die Polizei gerufen hätte. Vielleicht wäre der Junge festgenommen worden, weil er ohnehin wegen etwas anderem gesucht wird. Geld, so schien es mir, hätte er ohnehin keines gehabt, um für den Schaden aufzukommen. Für ihn war die Sache erledigt, als das Notrad aus dem Kofferraum montiert war. Vielleicht hätten die Carabinieri Spaß daran gehabt, einen weiteren armen Teufel dingfest zu machen, währenddessen sie an den großen Fischen geflissentlich vorbei schauen. Wer weiß das schon?

„Jetzt machen wir es wie in Sizilien“, gab ich schließlich nach. Was soll‘s? Correctness hat hier in den hintersten Winkel der Monti Iblei kein Durchsetzungsvermögen. Vielleicht ist das gut so, vielleicht ist es schlecht, wer weiß das schon? Wer weiß hier schon irgendwas, außer dass vermutlich am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht?

Wir vier gaben uns die Hände, besiegelten unseren Deal. Namen wurden keine gewechselt. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, doch alle drei Sizilianer strahlten. Der Junge setzte sich fröhlich auf sein Moped, warf den Motor an und verschwand wieder im Nichts.

A very special beauty

Der Piano Alto ist keine Schönheit. Mit seiner Lage ganz oben zwar die „Belle Étage“ über der barocken Pracht Notos, ist das Viertel aber eher der arme Verwandte der architektonisch und kulturell so reichen Weltkulturerbe-Stadt. Eine gewisse Enttäuschung ist den Touristen anzumerken, die sich bei enormer Hitze erwartungsvoll über 150 Stufen einer Treppenwand herauf gequält haben, um Gagliardis erstes Meisterwerk zu sehen, die Chiesa Crocifisso. Oder um das gleichnamige Ristorante aufzusuchen, das mit seiner hoch gepriesenen Küche in keinem neueren Reiseführer unerwähnt bleibt.

Wer die Treppenwand geschafft hat, die über die Ostseite des Doms erreichbar ist, sieht als erstes den Eingang zur Jugendherberge. Wer hier absteigt, genießt einen grandiosen Blick über die Stadt. Der Blick auf die Uhr am Turm des Palazzos gleich nebenan zeigt jahrein, jahraus die gleiche Zeit. Sie verharrt in dem Augenblick, als ihr Mechanismus einschlief und hofft vielleicht, von einem Investor wach geküsst zu werden. Der Uhrturm gehört zum Trigona, einem riesigen, leerstehenden und etwas gespenstisch wirkenden Gebäudekomplex: das einstige Spital der Stadt. Manche sagen auch, das einstige Irrenhaus, vermutlich wurden hier sowohl die körperlich als auch die geistig Siechen behandelt. „Trigona“ steht auf einem prächtigen Keramikschild über dem riesigen Portal, das mit einer dicken Kette versperrt ist. Durch ein Loch in der Tür erhascht der Neugierige einen kleinen Eindruck von der Mächtigkeit des früheren Spitals, das seinen Namen an einen Neubau weitergegeben hat.

Auch hier oben im Piano Alto reiht sich ein Palazzo an den anderen, ein ehemaliges Kloster gibt es hier, mit reich verzierter, aber verwahrlost wirkender Fassade. Das Kloster hat sich das Casa di reclusione einverleibt, il carcero, der Karzer, das Gefängnis. Der Komplex, der mitten im Piano Alto Schwerverbrecher beherbergt, zieht sich an der gesamten Piazza Mazzini entlang, bis zur Chiesa Crocifisso. Tagsüber hört man die Maschinen der Gefängnisschreinerei, nachts die Häftlinge sprechen. Manchmal, wenn sie protestieren, hört man auch ihr Geschrei. An den Gedanken, Verbrecher als Nachbarn zu haben, musste ich mich erst gewöhnen. Andererseits machen sie das Quartier auch sicher, denn es wird ihretwegen gut bewacht.

Die Piazza Mazzini wurde in den vergangenen Jahren rundum erneuert. Dem Fremden fällt das sicher nicht auf. Auch den Bewohnern kaum. Aber immerhin, die Restaurierung war ein Versuch der Stadtverwaltung, dem Piano Alto etwas Gutes zu tun, das Geld der EU und der UNESCO nicht nur in die touristisch besser verwertbaren Zonen Notos zu stecken. Auch Straßen wurden saniert, die gepflasterte Via Sergio Sallicano und ihre Nebengassen, die bis dahin nach jedem schweren Regen nur noch mehr tiefe Löcher hatte.

Die Menschen im Piano Alto versuchen angesichts der schwierigen Gesamtlage in Italien im allgemeinen und in Sizilien im besonderen ihr Bestes. Läden öffnen und schließen, wie der Eckladen Sallicano/Via Domenico Cirillo. Lange Jahre haben sich hier Obsthändler versucht, manche haben mehr nach Mafia ausgesehen, manche weniger. Jetzt hat sich ein Frisurenstudio dort eingerichtet. Mal sehen, für wie lange. Auch die „Night and Day Bar“, die schon immer so heißt, versucht sich zu mausern. Waren hier früher hauptsächlich etwas zwielichtig wirkende junge Männer Stammgäste, versuchen die Betreiber jetzt, auch Touristen zum Verweilen zu bewegen. Immer öfter gelingt ihnen das.

Gleich daneben ist ein Tabacchi. Blaue Gauloises gibt es hier, zumindest meistens, und das ist in Sizilien etwas Besonderes. Hier gibt es natürlich auch die unvemeidliche Lotto-Annahmestelle und bei den Ziehungen ist der Laden erwartunsvoll voll. Die Zahlen werden auf einem Bildschirm übertragen.

Eine lokale Berühmtheit in direkter Nachbarschaft der Chiesa Crocifisso gibt es mittlerweile nicht mehr: den Fischladen Onda Ionica der Fratelli Puglisi. Es hieß, hier gebe es den besten Fisch in ganz Noto und dafür kamen auch die Netini der besseren Viertel in den Piano Alto. Sofern sie noch kommen, finden sie an der selben Stelle eine neue Pescheria. Auch Salvo, der Friseur, hat sich ein wenig aufgemotzt, er nennt seinen Laden jetzt Studio. Im Inneren hat sich nichts verändert, es ist dunkel und auf das Interieur wird weniger Wert gelegt als auf die Schönheit der Kundinnen. Der Gasmann hat seinen kleinen Haushaltswarenladen schon vor einigen Jahren geschlossen. Hinter dem Ladentisch saß seine Frau im Dunkeln, während er mit seinem Lieferwagen die Gasflaschen, die bombole ausgefahren hat. Das macht er auch heute noch: Wenn man ihn braucht, findet man ihn in der nahe gelegen Bar San Corrado. Die liegt in der Via Principe Umberto, der Parallelstraße zur Sallicano. Diese Adresse haben weitere Ziele, die es lohnen, die Treppenwand hinauf zu steigen: Neben dem erwähnten Ristorante Crocifisso, das allerdings seit seiner Hipster-Renovierung jeglichen sizilianischen Charme eingebüßt hat, liegt in der Umberto auch Kennedy’s, eine außergewöhnliche Pasticceria. Warum sie Kennedy’s heißt, wer weiß. Ich habe bis heute keine Antwort erhalten von der kleinen Konditorin, ganz in schwarz, die stets ein wenig mürrisch die Biscotti, die Cannoli oder die kunstvoll-barocken Torte di gelato verkauft. Sonntags ist vor ihrem Laden immer ein Verkehrschaos, weil die dicken SUVs auch in zweiter Reihe in der engen Straße halten. Die Dolci vertragen nämlich keinen allzu langen Aufenthalt in der Hitze Siziliens.

Ebenfalls eine erste Adresse, wenn es um Fleisch geht, ist die Macelleria von Signore Bonfanti. Boutique di carne hat er sie genannt. Mittlerweile steht er nicht mehr gemeinsam mit seinem Gesellen hinter der Theke. Dort werkelt jetzt der junge Metzger alleine. Wortkarg und mit einer Ernsthaftigkeit, als ob es sich um Preziosen handeln würde, schneidet er Prosciutto und zerlegt Fleisch. Immer 1A-Qualität. Immer würdevoll. Er spricht nicht viel und lächelt auch nicht, höchstens andeutungsweise, wenn man auch nach dem zehnten Mal wieder vergessen hat, wie ein Six-Pack Wasser auf Italienisch heißt. Er wiederholt es auch zum elften Mal. Seit kurzem klebt auf seinem schwarzen BMW ein Aufkleber: Bambino a bordo. Soweit ich das beurteilen kann, hat er eine Signorina aus der Nachbarschaft der Metzgerei geheiratet.

Etwas abseits von der Piazza Mazzini gibt es ein Panificio. „Il Forno“ nennt sich die Brotbäckerei, die zu manchen Tageszeiten ein Treffpunkt scheinbar aller älterer Frauen des Viertels wird. Es wird parliert, es wird gelacht und keine ist mit dem ersten Brot zufrieden, das ihnen die beiden jungen Verkäuferinnen anbieten. Nie verlieren die Damen die Übersicht über die Reihenfolge. Nach dem Brot geht es noch zum Gemüsehändler eine Straße weiter. Dort gibt es nichts Exotisches. Das Fremdeste, was hier in der Auslage zu finden ist, sind Bananen. An manchen Tagen röstet der Senior vor dem spartanischen Geschäft Paprika. Und den Großeinkauf trägt der Junior seinen Kundinnen selbstredend zum Automobil.

Der Piano Alto ist keine Schönheit, hier leben die einfachen Leute und die Taxifahrerin, die mich einmal von der Bushaltestelle unten am Corso hier herauf gefahren hat, kannte weder die Sallicano, noch wollte sie es so recht glauben, dass ich hier oben wohne. Und nicht unten, in all der zuckersüßen barocken Pracht, wegen der jedes Jahr Touristen aus aller Welt kommen. Doch wenn ich hier oben meine Haustüre öffne, sehe ich das wirkliche sizilianische Leben: Gleich gegenüber in meiner Gasse ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu Hause. Beide Kinder meiner Nachbarn haben keinen Job. Dafür hat die Tochter jetzt ein einjähriges Kind. Sie macht sich gut als sizilianische Mama, auch wenn sie nicht verheiratet ist. Ein solches Ereignis kann sich die Familie nicht leisten.

Andere Nachbarn sind mittlerweile weggezogen. Sie haben ihr kleines Häuschen verkauft, ziemlich schnell sogar haben sie einen Interessenten gefunden, der hat es renoviert. Gleich daneben wohnt der „Stuttgarter“, wie ich ihn nenne. Ein ehemaliger Gastarbeiter, der nach der Rente heimgekehrt ist. Auch er lässt gerade den Teil seines Hauses renovieren, der auf meine Gasse rausgeht. Unermüdlich steht er neben den Bauarbeitern und gibt Anweisungen. Seine mürrische Frau fegt derweil unentwegt den Bauschutt. Irgendwie kommen sie mir mit ihrem Eifer sehr deutsch vor, aber das täuscht. Ich habe in den vielen Jahren gelernt, dass die Sizilianer ihr Eigentum penibel in Ordnung halten. Mit dem Gemeinwohl nehmen sie es hingegen nicht so genau. Noch immer kippen viele ihren Müll einfach in die wunderbare sizilianische Landschaft, die dadurch geschändet wird.

Der Piano Alto hat seine eigene Schönheit. Sie ist herb, sie ist lebendig, sie ist authentisch. Mein Viertel lässt sich nicht in einen Reiseführer zwängen, sich nicht mit einem kurzen Abschnitt in einem Buch beschreiben, sich nicht bei einem kurzen Spaziergang ergründen. Die Bellezza des Piano Alto entfaltet sich erst, wenn man sie nicht mehr mit den Augen des Touristen sucht.

Girl on the train — Part II

 

Napoli Centrale bereitet sich auf eine kurze Nacht vor. In der Bahnhofshalle wird es still, die letzten Züge sind eingefahren, die letzten Ankommenden dieses Tages wurden von ihren Familien geherzt oder hetzen nach draußen, wo die letzten Taxis dieses Tages warten. Nur ein letzter Zug steht noch auf der großen Anzeigetafel. Sein Ziel: Siracusa. Diejenigen, die kurz vor Mitternacht noch in der fast stillen Halle ausharren, warten auf den Nachtzug, der aus Rom kommen soll.

Bahnhof klein

Der Intercity ist pünktlich. An den Fenstern und in den Gängen stehen keine Reisenden, sie sind bereits in ihren Abteilen, in ihren Kojen. Fast geräuschlos besteigen die letzten in Napoli Centrale in den Zug. Ich habe in Wagen 4 Bett 42. Meine drei Mitreisenden schlafen schon, als ich die Tür öffne. Irritiert bin ich von einer Wasserflasche und einer Süßigkeit die jemand auf meinem Bett abgelegt hat. Es war der Schaffner, alle Reisende erhalten diese kleine Aufmerksamkeit.

Der conduttore lässt nicht lange auf sich warten, er will meine Fahrkarte sehen. Meinen Ausweis, in diesem Zug hat alles seine Ordnung. Dann schließt er leise die Tür, es wird dunkel. Die Jalousien vor den Fenstern sind geschlossen, nur ein blaues Nachtlicht leuchtet. Mit mir sind ein junges deutsches Pärchen und älterer sizilianischer Herr im Abteil. Sie schenken mir nur kurz Aufmerksam und geben sich dann wieder ihren Träumen hin. Der Zug fährt pünktlich ab, es ist 0.15 Uhr.

Ein letzter Halt in Salerno, dann braust der Intercity durch die süditalienische Nacht. Campania, Puglia, der endlose Schlauch bis zur Stiefelspitze. Ich bin schon mehrfach mit dem Auto gefahren. Anfangs waren die Fahrten auf dieser A2 ein Horrortrip, Baustellen, Umleitungen, legendär die Ausleitungen in Lagonegro, endlose Schleifen, schlecht beleuchtete Tunnel. Heute ist die Strecke bestens ausgebaut, trotzdem ist sie ein Schlauch, durch den Aspromonte, vorbei an endlosem Wald. In Campora San Giovanni sieht man das erste Mal das Meer, wenn man mit dem Auto von Deutschland nach Sizilien fährt, das sind geschätzt 1500 Kilometer.

Das Meer habe ich dieses Mal bereits in Neapel gesehen, ich werde es bei Sonnenaufgang wieder sehen, wenn der Zug die Straße von Messina erreicht hat, den Stretto. Solange fühle ich nur die Geschwindigkeit, das Schaukeln des Zuges. Um 4.25 Uhr wird er in Villa San Giovanni sein, dort legen die Fähren ab nach Sizilien. Ich will das nicht verschlafen, deshalb döse ich nur. Der ältere Sizilianer schnarcht, ich habe mein Ohropax vergessen. Dann schlafe ich doch noch ein. Ich bin endlos müde, es war ein langer Tag in Napoli. Ich habe wirre Träume Von den Orten in Apulien, an denen ich in einem früheren Leben schon war, von Palmi, von Tropea, von Scilla.

Dann plötzlich bremst der Zug, er quietscht. Er rangiert. Wir müssen da sein. Ich lausche, Vom Gang höre ich nichts. Auch meine Mitreisenden schlafen tief. Meine Uhr sagt mir, dass wir in Villa San Giovanni sein müssen. Die Neugier treibt mich aus dem Abteil. Die Waggons sind bereits auf der Fähre, zweigeteilt, die eine Hälfte wird später nach Palermo weiterfahren. Und tatsächlich: Die Zugtüren sind auf. Glück durchströmt mich, ich kann tatsächlich auf der Fähre stehen und Sizilien vom Wasser aus begrüßen.

Zug auf der Fähre Kopie klein

Jetzt im Sommer wird es gerade hell, als das Schiff übersetzt. Kurz nach 5 Uhr ist es auf dem Stretto noch ruhig. Später wird hier reger Schiffsverkehr sein. Die Fähre dreht, wir lassen das Festland hinter uns, vor uns liegt Messina, glitzernd. Es ist kalt an Bord, auch in Italien, auch in Sizilien warten sie sehnsüchtig auf den Sommer, der in diesem Jahr einfach nicht kommen will. Einige wenige Passagiere haben es mir gleich getan. Ein Sizilianer bittet mich, ihn mit seiner geliebten Insel im Hintergrund zu fotografieren. Ein amerikanisches Paar knipst sich gegenseitig. Eheleute rauchen einträchtig eine Zigarette.

Vos et ipsam civitatem benedicamus, so grüßt uns die Madonna, die über den Hafen von Messina wacht, ich weiß nicht genau, was das heißt, aber es wirkt erhaben.

Hafen von Messina Kopie_klein

Nachdem wir angelegt haben, gehe ich zurück in mein Abteil. Dort schlafen sie immer noch, sie haben das Beste an dieser Zugfahrt versäumt. Später wird die junge Deutsche zu ihrem Freund sagen, dass sie die Überfahrt schon gerne erlebt hätte. Aber das klingt, so wie sie es sagt, nicht besonders enttäuscht.

Gut zwei Stunden hat der Zug für die gut drei Kilometer zwischen Villa San Giovanni und Messina gebraucht. So lange braucht ein Flugzeug von München nach Catania. Doch ist dies die einzig wahre Art, sich Sizilien zu nähern: vom Wasser aus. Sizilien ist eine Insel und ich bin froh, dass derzeit die geplante Mega-Brücke über den Stretto offenbar vom Tisch ist.

Stretto Kopie klein

Noch gute drei Stunden wird es anschließend dauern, bis wir die Endstation Siracusa erreicht haben. Magische Namen tauchen auf: Taormina – Giardini Naxos. Hier strömt der Bahnhof noch das Flair der Belle Epoche aus, als Zugfahren im Schlafwagen noch kein Anachronismus war, sondern die schnellste Möglichkeit der Fortbewegung bedeutete. Besonders die Engländer haben im 19. Jahrhundert in Taormina überwintert, in diesem Traum von Licht und Meer vor der Kulisse des stets qualmenden Ätna. Heute ist Taormina nur noch eine fade Erinnerung an diese große Zeit der Eleganz, die Stadt auf dem Berg wird überschwemmt von Millionen Touristen jedes Jahr.

Dem Ätna ist das egal. Vom Zugfenster aus betrachte ich in aller Ruhe diesen mächtigen Vulkan. Derzeit qualmt er mehr als sonst, Ende Mai gab es wieder einen heftigen Ausbruch und jeder Lavastrom wird von neuen gruseligen Prophezeihungen der Wissenschaftler begleitetet. Diesmal heißt es, dass eine komplette Flanke abrutschen könnte ins Ionische Meer und was das bedeuten würde, will ich mir gar nicht vorstellen.

In Catania steigen die meisten aus, auch der ältere sizilianische Herr aus meinem Abteil. Der Schaffner schließt die leer gewordenen Abteile und wir drei Verbliebenen klappen die Betten hoch. Richtige Sitze hat dieser Zug nicht, aber wenigstens muss ich jetzt den Kopf nicht mehr einziehen. Den schüttle ich auch diesmal wieder, als die Bahnlinie durch die Schwerindustrie bei Augusta führt. Die Petrochemie ist noch im Abteil zu riechen.

siracusa klein

Pünktlich erreicht der Intercity um 9.39 Uhr Siracusa. Zufrieden steige ich aus, nach dieser Reise, die in mir Erinnerungen weckte an meine eigene Geschichte, als ich früher mit dem Zug nach Rom gereist und regelmäßig in Innsbruck gestrandet bin, weil irgendwer in Italien damals immer gestreikt hat. Und an meine erste Sizilien-Reise 2001, als ich mit meinem Begleiter von Genua kommend mit der Fähre Palermo erreichte und wir dann mit dem Zug bis nach Siracusa weiterfuhren.

Ich trete nach dieser langen Reise in Siracusa aus dem Bahnhof und bin wie immer glücklich, dass alles noch genau so da ist, wie es schon immer war. Die kleine Bar zur Linken, die Bauruine etwas weiter hinten und nur ein paar Meter weiter die Bushaltestelle, wo ich in der warmen sizilianischen Sonne auf die Weiterfahrt nach Noto warte.

Postcards from Sicily

During my journey through Sicily, I sent my friends and family every morning a Picoftheday. See the full collection of my very personal impressions:

 

 

 

 

 

 

(Copyright of all pictures: slingpressphoto/Martina Haas — no unauthorized publication)