SP 104

Sizilien, die Umwelt, das Klima, die sizilianische Landschaft. Das sind die Kräfte, die zugleich — und vielleicht mehr als alle Fremdherrschaften und Schändungen — unseren Geist gebildet haben: diese Landschaft, die keine Mitte kennt zwischen üppiger Weiche und vermaledeiter Wüste; die niemals eng ist, nie nur bescheidene Erde, ohne Spannung, wie ein Land sein müßte, das vernünftigen Wesen zum Aufenthalt dienen soll; dieses Land, das wenige Meilen voneinander entfernt die Hölle um Randazzo hat und die Schönheit der Bucht von Taormina.

G. Tomasi di Lampedusa, Il gattopardo

Ein riesiges Schlagloch bringt das Auto zum Stehen. Endstation auf dieser dystopischen Straße. Schilder hatten an der Abzweigung von der SS 194 in Richtung Gela vor etwas gewarnt, aber vor was?

Die SP 104 in der Provinz Catania führt scheinbar ins nirgendwo, der Wegweiser nach Lentini – einmal und dann nie wieder gesehen. Links ist ein Damm, dort muss auch eine Bahnlinie sein. Rechts öffnet sich eine Ebene, die Piana di Catania. Am Horizont ist im Dunst eine Hügelkette zu erahnen. Eine zerstörte Betonrinne läuft neben der Straße, vielleicht früher zur Bewässerung der Felder. Die zerstörte Piste gleicht einer Kraterlandschaft.

Gewitterstimmung liegt über dem Land. Kein Mensch weit und breit auf der Fläche, die 430 Quadratkilometer umfasst, kein Tier, kein Geräusch, nichts. Catania Flughafen Fontanarossa hat auch darin Platz gefunden. Der Dunst macht die Orientierung schwer. Manchmal noch bricht sich die Sonne durch die schwarze Wolkenfront. Der Ätna, sonst alles überragend, versteckt sich in dieser Suppe.

Zerfallene Häuser zeugen davon, dass in dieser Landschaft einmal Menschen gelebt haben müssen. Zwischen den Flüssen Simeto, Dittaino und Gornalunga. Deren Wasser hat die fruchtbare Erde angeschwemmt. Heute sind die Bauernhöfe so gut wie alle verlassen, vergehen, verschwinden.

Diese seelenlose Fläche ist eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Anbaugebiete Siziliens. Orangen, Getreide, auch Oliven. Die vulkanische Aktivität in der direkten Nachbarschaft macht die Ödnis außerordentlich fruchtbar. Zu sehen ist von dieser Fülle nicht viel, nur abgeerntete Felder. Die nächsten Städte sind Catania, Lentini oder Francofonte.

Der Schlag, den das Auto abbekommen hat, hat einen Schwarm Vögel aufgescheucht. Sie scheinen die letzten Wächter der Piana di Catania zu sein.

Girl on the train — Part II

 

Napoli Centrale bereitet sich auf eine kurze Nacht vor. In der Bahnhofshalle wird es still, die letzten Züge sind eingefahren, die letzten Ankommenden dieses Tages wurden von ihren Familien geherzt oder hetzen nach draußen, wo die letzten Taxis dieses Tages warten. Nur ein letzter Zug steht noch auf der großen Anzeigetafel. Sein Ziel: Siracusa. Diejenigen, die kurz vor Mitternacht noch in der fast stillen Halle ausharren, warten auf den Nachtzug, der aus Rom kommen soll.

Bahnhof klein

Der Intercity ist pünktlich. An den Fenstern und in den Gängen stehen keine Reisenden, sie sind bereits in ihren Abteilen, in ihren Kojen. Fast geräuschlos besteigen die letzten in Napoli Centrale in den Zug. Ich habe in Wagen 4 Bett 42. Meine drei Mitreisenden schlafen schon, als ich die Tür öffne. Irritiert bin ich von einer Wasserflasche und einer Süßigkeit die jemand auf meinem Bett abgelegt hat. Es war der Schaffner, alle Reisende erhalten diese kleine Aufmerksamkeit.

Der conduttore lässt nicht lange auf sich warten, er will meine Fahrkarte sehen. Meinen Ausweis, in diesem Zug hat alles seine Ordnung. Dann schließt er leise die Tür, es wird dunkel. Die Jalousien vor den Fenstern sind geschlossen, nur ein blaues Nachtlicht leuchtet. Mit mir sind ein junges deutsches Pärchen und älterer sizilianischer Herr im Abteil. Sie schenken mir nur kurz Aufmerksam und geben sich dann wieder ihren Träumen hin. Der Zug fährt pünktlich ab, es ist 0.15 Uhr.

Ein letzter Halt in Salerno, dann braust der Intercity durch die süditalienische Nacht. Campania, Puglia, der endlose Schlauch bis zur Stiefelspitze. Ich bin schon mehrfach mit dem Auto gefahren. Anfangs waren die Fahrten auf dieser A2 ein Horrortrip, Baustellen, Umleitungen, legendär die Ausleitungen in Lagonegro, endlose Schleifen, schlecht beleuchtete Tunnel. Heute ist die Strecke bestens ausgebaut, trotzdem ist sie ein Schlauch, durch den Aspromonte, vorbei an endlosem Wald. In Campora San Giovanni sieht man das erste Mal das Meer, wenn man mit dem Auto von Deutschland nach Sizilien fährt, das sind geschätzt 1500 Kilometer.

Das Meer habe ich dieses Mal bereits in Neapel gesehen, ich werde es bei Sonnenaufgang wieder sehen, wenn der Zug die Straße von Messina erreicht hat, den Stretto. Solange fühle ich nur die Geschwindigkeit, das Schaukeln des Zuges. Um 4.25 Uhr wird er in Villa San Giovanni sein, dort legen die Fähren ab nach Sizilien. Ich will das nicht verschlafen, deshalb döse ich nur. Der ältere Sizilianer schnarcht, ich habe mein Ohropax vergessen. Dann schlafe ich doch noch ein. Ich bin endlos müde, es war ein langer Tag in Napoli. Ich habe wirre Träume Von den Orten in Apulien, an denen ich in einem früheren Leben schon war, von Palmi, von Tropea, von Scilla.

Dann plötzlich bremst der Zug, er quietscht. Er rangiert. Wir müssen da sein. Ich lausche, Vom Gang höre ich nichts. Auch meine Mitreisenden schlafen tief. Meine Uhr sagt mir, dass wir in Villa San Giovanni sein müssen. Die Neugier treibt mich aus dem Abteil. Die Waggons sind bereits auf der Fähre, zweigeteilt, die eine Hälfte wird später nach Palermo weiterfahren. Und tatsächlich: Die Zugtüren sind auf. Glück durchströmt mich, ich kann tatsächlich auf der Fähre stehen und Sizilien vom Wasser aus begrüßen.

Zug auf der Fähre Kopie klein

Jetzt im Sommer wird es gerade hell, als das Schiff übersetzt. Kurz nach 5 Uhr ist es auf dem Stretto noch ruhig. Später wird hier reger Schiffsverkehr sein. Die Fähre dreht, wir lassen das Festland hinter uns, vor uns liegt Messina, glitzernd. Es ist kalt an Bord, auch in Italien, auch in Sizilien warten sie sehnsüchtig auf den Sommer, der in diesem Jahr einfach nicht kommen will. Einige wenige Passagiere haben es mir gleich getan. Ein Sizilianer bittet mich, ihn mit seiner geliebten Insel im Hintergrund zu fotografieren. Ein amerikanisches Paar knipst sich gegenseitig. Eheleute rauchen einträchtig eine Zigarette.

Vos et ipsam civitatem benedicamus, so grüßt uns die Madonna, die über den Hafen von Messina wacht, ich weiß nicht genau, was das heißt, aber es wirkt erhaben.

Hafen von Messina Kopie_klein

Nachdem wir angelegt haben, gehe ich zurück in mein Abteil. Dort schlafen sie immer noch, sie haben das Beste an dieser Zugfahrt versäumt. Später wird die junge Deutsche zu ihrem Freund sagen, dass sie die Überfahrt schon gerne erlebt hätte. Aber das klingt, so wie sie es sagt, nicht besonders enttäuscht.

Gut zwei Stunden hat der Zug für die gut drei Kilometer zwischen Villa San Giovanni und Messina gebraucht. So lange braucht ein Flugzeug von München nach Catania. Doch ist dies die einzig wahre Art, sich Sizilien zu nähern: vom Wasser aus. Sizilien ist eine Insel und ich bin froh, dass derzeit die geplante Mega-Brücke über den Stretto offenbar vom Tisch ist.

Stretto Kopie klein

Noch gute drei Stunden wird es anschließend dauern, bis wir die Endstation Siracusa erreicht haben. Magische Namen tauchen auf: Taormina – Giardini Naxos. Hier strömt der Bahnhof noch das Flair der Belle Epoche aus, als Zugfahren im Schlafwagen noch kein Anachronismus war, sondern die schnellste Möglichkeit der Fortbewegung bedeutete. Besonders die Engländer haben im 19. Jahrhundert in Taormina überwintert, in diesem Traum von Licht und Meer vor der Kulisse des stets qualmenden Ätna. Heute ist Taormina nur noch eine fade Erinnerung an diese große Zeit der Eleganz, die Stadt auf dem Berg wird überschwemmt von Millionen Touristen jedes Jahr.

Dem Ätna ist das egal. Vom Zugfenster aus betrachte ich in aller Ruhe diesen mächtigen Vulkan. Derzeit qualmt er mehr als sonst, Ende Mai gab es wieder einen heftigen Ausbruch und jeder Lavastrom wird von neuen gruseligen Prophezeihungen der Wissenschaftler begleitetet. Diesmal heißt es, dass eine komplette Flanke abrutschen könnte ins Ionische Meer und was das bedeuten würde, will ich mir gar nicht vorstellen.

In Catania steigen die meisten aus, auch der ältere sizilianische Herr aus meinem Abteil. Der Schaffner schließt die leer gewordenen Abteile und wir drei Verbliebenen klappen die Betten hoch. Richtige Sitze hat dieser Zug nicht, aber wenigstens muss ich jetzt den Kopf nicht mehr einziehen. Den schüttle ich auch diesmal wieder, als die Bahnlinie durch die Schwerindustrie bei Augusta führt. Die Petrochemie ist noch im Abteil zu riechen.

siracusa klein

Pünktlich erreicht der Intercity um 9.39 Uhr Siracusa. Zufrieden steige ich aus, nach dieser Reise, die in mir Erinnerungen weckte an meine eigene Geschichte, als ich früher mit dem Zug nach Rom gereist und regelmäßig in Innsbruck gestrandet bin, weil irgendwer in Italien damals immer gestreikt hat. Und an meine erste Sizilien-Reise 2001, als ich mit meinem Begleiter von Genua kommend mit der Fähre Palermo erreichte und wir dann mit dem Zug bis nach Siracusa weiterfuhren.

Ich trete nach dieser langen Reise in Siracusa aus dem Bahnhof und bin wie immer glücklich, dass alles noch genau so da ist, wie es schon immer war. Die kleine Bar zur Linken, die Bauruine etwas weiter hinten und nur ein paar Meter weiter die Bushaltestelle, wo ich in der warmen sizilianischen Sonne auf die Weiterfahrt nach Noto warte.