A very special beauty

Der Piano Alto ist keine Schönheit. Mit seiner Lage ganz oben zwar die „Belle Étage“ über der barocken Pracht Notos, ist das Viertel aber eher der arme Verwandte der architektonisch und kulturell so reichen Weltkulturerbe-Stadt. Eine gewisse Enttäuschung ist den Touristen anzumerken, die sich bei enormer Hitze erwartungsvoll über 150 Stufen einer Treppenwand herauf gequält haben, um Gagliardis erstes Meisterwerk zu sehen, die Chiesa Crocifisso. Oder um das gleichnamige Ristorante aufzusuchen, das mit seiner hoch gepriesenen Küche in keinem neueren Reiseführer unerwähnt bleibt.

Wer die Treppenwand geschafft hat, die über die Ostseite des Doms erreichbar ist, sieht als erstes den Eingang zur Jugendherberge. Wer hier absteigt, genießt einen grandiosen Blick über die Stadt. Der Blick auf die Uhr am Turm des Palazzos gleich nebenan zeigt jahrein, jahraus die gleiche Zeit. Sie verharrt in dem Augenblick, als ihr Mechanismus einschlief und hofft vielleicht, von einem Investor wach geküsst zu werden. Der Uhrturm gehört zum Trigona, einem riesigen, leerstehenden und etwas gespenstisch wirkenden Gebäudekomplex: das einstige Spital der Stadt. Manche sagen auch, das einstige Irrenhaus, vermutlich wurden hier sowohl die körperlich als auch die geistig Siechen behandelt. „Trigona“ steht auf einem prächtigen Keramikschild über dem riesigen Portal, das mit einer dicken Kette versperrt ist. Durch ein Loch in der Tür erhascht der Neugierige einen kleinen Eindruck von der Mächtigkeit des früheren Spitals, das seinen Namen an einen Neubau weitergegeben hat.

Auch hier oben im Piano Alto reiht sich ein Palazzo an den anderen, ein ehemaliges Kloster gibt es hier, mit reich verzierter, aber verwahrlost wirkender Fassade. Das Kloster hat sich das Casa di reclusione einverleibt, il carcero, der Karzer, das Gefängnis. Der Komplex, der mitten im Piano Alto Schwerverbrecher beherbergt, zieht sich an der gesamten Piazza Mazzini entlang, bis zur Chiesa Crocifisso. Tagsüber hört man die Maschinen der Gefängnisschreinerei, nachts die Häftlinge sprechen. Manchmal, wenn sie protestieren, hört man auch ihr Geschrei. An den Gedanken, Verbrecher als Nachbarn zu haben, musste ich mich erst gewöhnen. Andererseits machen sie das Quartier auch sicher, denn es wird ihretwegen gut bewacht.

Die Piazza Mazzini wurde in den vergangenen Jahren rundum erneuert. Dem Fremden fällt das sicher nicht auf. Auch den Bewohnern kaum. Aber immerhin, die Restaurierung war ein Versuch der Stadtverwaltung, dem Piano Alto etwas Gutes zu tun, das Geld der EU und der UNESCO nicht nur in die touristisch besser verwertbaren Zonen Notos zu stecken. Auch Straßen wurden saniert, die gepflasterte Via Sergio Sallicano und ihre Nebengassen, die bis dahin nach jedem schweren Regen nur noch mehr tiefe Löcher hatte.

Die Menschen im Piano Alto versuchen angesichts der schwierigen Gesamtlage in Italien im allgemeinen und in Sizilien im besonderen ihr Bestes. Läden öffnen und schließen, wie der Eckladen Sallicano/Via Domenico Cirillo. Lange Jahre haben sich hier Obsthändler versucht, manche haben mehr nach Mafia ausgesehen, manche weniger. Jetzt hat sich ein Frisurenstudio dort eingerichtet. Mal sehen, für wie lange. Auch die „Night and Day Bar“, die schon immer so heißt, versucht sich zu mausern. Waren hier früher hauptsächlich etwas zwielichtig wirkende junge Männer Stammgäste, versuchen die Betreiber jetzt, auch Touristen zum Verweilen zu bewegen. Immer öfter gelingt ihnen das.

Gleich daneben ist ein Tabacchi. Blaue Gauloises gibt es hier, zumindest meistens, und das ist in Sizilien etwas Besonderes. Hier gibt es natürlich auch die unvemeidliche Lotto-Annahmestelle und bei den Ziehungen ist der Laden erwartunsvoll voll. Die Zahlen werden auf einem Bildschirm übertragen.

Eine lokale Berühmtheit in direkter Nachbarschaft der Chiesa Crocifisso gibt es mittlerweile nicht mehr: den Fischladen Onda Ionica der Fratelli Puglisi. Es hieß, hier gebe es den besten Fisch in ganz Noto und dafür kamen auch die Netini der besseren Viertel in den Piano Alto. Sofern sie noch kommen, finden sie an der selben Stelle eine neue Pescheria. Auch Salvo, der Friseur, hat sich ein wenig aufgemotzt, er nennt seinen Laden jetzt Studio. Im Inneren hat sich nichts verändert, es ist dunkel und auf das Interieur wird weniger Wert gelegt als auf die Schönheit der Kundinnen. Der Gasmann hat seinen kleinen Haushaltswarenladen schon vor einigen Jahren geschlossen. Hinter dem Ladentisch saß seine Frau im Dunkeln, während er mit seinem Lieferwagen die Gasflaschen, die bombole ausgefahren hat. Das macht er auch heute noch: Wenn man ihn braucht, findet man ihn in der nahe gelegen Bar San Corrado. Die liegt in der Via Principe Umberto, der Parallelstraße zur Sallicano. Diese Adresse haben weitere Ziele, die es lohnen, die Treppenwand hinauf zu steigen: Neben dem erwähnten Ristorante Crocifisso, das allerdings seit seiner Hipster-Renovierung jeglichen sizilianischen Charme eingebüßt hat, liegt in der Umberto auch Kennedy’s, eine außergewöhnliche Pasticceria. Warum sie Kennedy’s heißt, wer weiß. Ich habe bis heute keine Antwort erhalten von der kleinen Konditorin, ganz in schwarz, die stets ein wenig mürrisch die Biscotti, die Cannoli oder die kunstvoll-barocken Torte di gelato verkauft. Sonntags ist vor ihrem Laden immer ein Verkehrschaos, weil die dicken SUVs auch in zweiter Reihe in der engen Straße halten. Die Dolci vertragen nämlich keinen allzu langen Aufenthalt in der Hitze Siziliens.

Ebenfalls eine erste Adresse, wenn es um Fleisch geht, ist die Macelleria von Signore Bonfanti. Boutique di carne hat er sie genannt. Mittlerweile steht er nicht mehr gemeinsam mit seinem Gesellen hinter der Theke. Dort werkelt jetzt der junge Metzger alleine. Wortkarg und mit einer Ernsthaftigkeit, als ob es sich um Preziosen handeln würde, schneidet er Prosciutto und zerlegt Fleisch. Immer 1A-Qualität. Immer würdevoll. Er spricht nicht viel und lächelt auch nicht, höchstens andeutungsweise, wenn man auch nach dem zehnten Mal wieder vergessen hat, wie ein Six-Pack Wasser auf Italienisch heißt. Er wiederholt es auch zum elften Mal. Seit kurzem klebt auf seinem schwarzen BMW ein Aufkleber: Bambino a bordo. Soweit ich das beurteilen kann, hat er eine Signorina aus der Nachbarschaft der Metzgerei geheiratet.

Etwas abseits von der Piazza Mazzini gibt es ein Panificio. „Il Forno“ nennt sich die Brotbäckerei, die zu manchen Tageszeiten ein Treffpunkt scheinbar aller älterer Frauen des Viertels wird. Es wird parliert, es wird gelacht und keine ist mit dem ersten Brot zufrieden, das ihnen die beiden jungen Verkäuferinnen anbieten. Nie verlieren die Damen die Übersicht über die Reihenfolge. Nach dem Brot geht es noch zum Gemüsehändler eine Straße weiter. Dort gibt es nichts Exotisches. Das Fremdeste, was hier in der Auslage zu finden ist, sind Bananen. An manchen Tagen röstet der Senior vor dem spartanischen Geschäft Paprika. Und den Großeinkauf trägt der Junior seinen Kundinnen selbstredend zum Automobil.

Der Piano Alto ist keine Schönheit, hier leben die einfachen Leute und die Taxifahrerin, die mich einmal von der Bushaltestelle unten am Corso hier herauf gefahren hat, kannte weder die Sallicano, noch wollte sie es so recht glauben, dass ich hier oben wohne. Und nicht unten, in all der zuckersüßen barocken Pracht, wegen der jedes Jahr Touristen aus aller Welt kommen. Doch wenn ich hier oben meine Haustüre öffne, sehe ich das wirkliche sizilianische Leben: Gleich gegenüber in meiner Gasse ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu Hause. Beide Kinder meiner Nachbarn haben keinen Job. Dafür hat die Tochter jetzt ein einjähriges Kind. Sie macht sich gut als sizilianische Mama, auch wenn sie nicht verheiratet ist. Ein solches Ereignis kann sich die Familie nicht leisten.

Andere Nachbarn sind mittlerweile weggezogen. Sie haben ihr kleines Häuschen verkauft, ziemlich schnell sogar haben sie einen Interessenten gefunden, der hat es renoviert. Gleich daneben wohnt der „Stuttgarter“, wie ich ihn nenne. Ein ehemaliger Gastarbeiter, der nach der Rente heimgekehrt ist. Auch er lässt gerade den Teil seines Hauses renovieren, der auf meine Gasse rausgeht. Unermüdlich steht er neben den Bauarbeitern und gibt Anweisungen. Seine mürrische Frau fegt derweil unentwegt den Bauschutt. Irgendwie kommen sie mir mit ihrem Eifer sehr deutsch vor, aber das täuscht. Ich habe in den vielen Jahren gelernt, dass die Sizilianer ihr Eigentum penibel in Ordnung halten. Mit dem Gemeinwohl nehmen sie es hingegen nicht so genau. Noch immer kippen viele ihren Müll einfach in die wunderbare sizilianische Landschaft, die dadurch geschändet wird.

Der Piano Alto hat seine eigene Schönheit. Sie ist herb, sie ist lebendig, sie ist authentisch. Mein Viertel lässt sich nicht in einen Reiseführer zwängen, sich nicht mit einem kurzen Abschnitt in einem Buch beschreiben, sich nicht bei einem kurzen Spaziergang ergründen. Die Bellezza des Piano Alto entfaltet sich erst, wenn man sie nicht mehr mit den Augen des Touristen sucht.

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