Un cornetto

Gorbatschow ist zwar ein Politiker und den meisten von dieser Spezies glaube ich ja erst mal gar nichts. Berufskrankheit. Aber ein Satz von ihm hat philosophische Allgemeingültigkeit: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Das lässt sich auf so ziemlich alle Lebensbereiche übertragen. Wer den Moment verpasst, verpasst ihn unwiederbringlich. Oder muss warten auf die nächste Gelegenheit. Sich in Geduld üben, hoffen, dass der entscheidende Augenblick wiederkehren möge, in einer Stunde, in einem Tag, in einem Monat oder im nächsten Jahrhundert. Und manchmal bleibt die Hoffnung auch schlicht unerfüllt.

Wer den richtigen Moment im Panificio Il forno verpasst, wer also zu spät kommt, weil nicht rechtzeitig aufgestanden, weil noch etwas anderes dazwischenkam, etwas vermeintlich wichtigeres, bekommt an diesem Tag kein Cornetto mehr. Womit der Tag nicht so starten kann, wie er starten sollte: mit dem Genuss dieses zwar auf den ersten Blick ganz und gar unspektakulären, aber in seiner Konsistenz einfach perfekten Hörnchens.

Es ist knusprig, ohne zu trocken zu sein oder in seine einzelnen Schichten zu zerbröseln. Sein weicher Kern schmeichelt dem Gaumen, ohne ihn zu verkleben. Der Geschmack ist angenehm neutral und lässt doch eine leichte Note zurück von, ja was eigentlich? Rum? Amaretto? Ich muss beim nächsten Mal fragen… Ein Hauch von Süße entfaltet sich, die sich nicht aufdrängt, einfach angenehm da ist, wie eine gute Freundin.

Aber Obacht: das cornetto verlangt nach voller Zuwendung. Wer hineinbeißt, darf nicht atmen, an nichts anderes denken, muss sich ganz diesem Moment hingeben. Sonst droht ein übler Hustenanfall, ausgelöst durch die weiße Schicht pudrigen Zuckers obenauf, als ob sie darüber wachte, dass dem Gebäck die Aufmerksamkeit zuteil wird, die ihm gebührt.

Carmelo, der Bäcker, weiß sicher, dass es um jeden geschehen ist, der einmal in die unzähligen perfekten Schichten seiner Cornetti gebissen hat. Er weiß vermutlich, dass jeder, der einmal diese sinnliche Erfahrung gemacht hat, immer wieder kommen wird. Und wenn er nicht zu spät war – weil rechtzeitig aufgestanden oder nicht abgelenkt von Nichtigkeiten – mit einem glücklichen Lächeln die Bäckerei verlassen wird. Voller Vorfreude auf die kurze Feuerpause, auf den perfekten Moment, bevor der eigentliche Tag beginnt, die Sonne zu heiß vom Himmel brennt.

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