Geowissenschaftler gehen von der Annahme aus, dass es zu einer Umkehr des Magnetfeldes der Erde kommen könnte. Wann genau dieser Polsprung sein wird, wissen sie zwar nicht, falls es irgendwann aber soweit sein sollte, so rechnen sie mit ziemlich katastrophalen Folgen für diesen Planeten. Zumindest soll das beim letzten Mal vor rund 42000 Jahren so gewesen sein. Fakt wäre in diesem Fall aber sicher, dass aus Norden Süden würde und wir alle neue Kompasse bräuchten.
Nun ist es in unserer schön kartografierten Welt des 21. Jahrhunderts ja so, dass die aus dem Norden gerne vom Süden träumen, zumindest wenn es um die nächste Urlaubsplanung geht: Vom guten Essen, vom besseren Wetter, von der entspannteren Lebenseinstellung usw. Im Alltag zeigen sie sich oft bestürzt von den Problemen des so genannten globalen Südens, wie die Entwicklungsländer heute politisch korrekt bezeichnet werden. Von all den Kriegen, Hungersnöten, Diktaturen und Fluchtbewegungen. Alles in allem lässt das aber die Menschen in ihrem, wie sie zumindest meinen, ziemlich perfekt funktionierenden Norden ziemlich kalt.
Und ein bisschen mitleidig bis genervt schauen sie aus dem Norden außerdem auf ihre südlich der Alpen gelegenen europäischen Nachbarn, die ihnen mit ihren chaotischen Regierungen oft als eine permanente Gefahr für die EU verkauft werden, noch schlimmer, als eine existenzielle Bedrohung für ihre heiligste Kuh, den Euro. Sie schimpfen über Rettungsschirme, Wiederaufbaufonds und erpressen Länder wie Italien damit, das Geld aus Brüssel nur dann auszahlen zu wollen, wenn auch alle ihre Bedingungen bedingungslos erfüllt werden. Denn wie heißt es doch so schön: Wer bezahlt, schafft an.

Im Norden, da klappt alles geschmeidig. Da wird nicht nur palavert, da wird geschafft, umgesetzt, mit der nördlichen Gründlichkeit, denken sie dort. Weil der Norden ist einfach vorbildlich toll, bessere Sozialsysteme, stabilere Demokratien, besserer Umweltschutz, so wird es den Menschen ja immer weisgemacht und das regt mich auf. Dass 2022 im Norden die Wälder brennen und es dort in diesem Sommer phasenweise viel heißer war als hier im Süden: so what!
Bei uns im Norden würde aber jedenfalls niemals so ein orangefarbenes Plastikband die perfekt gepflegte Landschaft verschandeln. Denke ich mir so, als ich nach Lido di Noto zum Strand fahre. Solche Plastikbänder nutzen sie hier in Sizilien, um Baustellen abzusichern. Wäre aber eine ziemlich lange Baustelle, überlege ich mir noch. Und als sich der orangene Faden näher an die Straße schlängelt, fällt mir auf, dass seit Jahr und Tag parallel zur Fahrbahn Bahngleise liegen müssen. Überwuchert offenbar, aus dem Blickfeld verschwunden, jahrzehntelang.
Hm, was sollte das jetzt bedeuten? Ich halte also an der nächsten Möglichkeit an, um mir die Sache aus der Nähe anzuschauen. Tatsächlich, Bauarbeiten an einer Bahnlinie. Kaum zu glauben. Fast ein bisschen fassungslos stehe ich an der im August verwaisten Baustelle, auf der der Wind den Staub aufwirbelt. War ja eigentlich hier nie Thema, denke ich. Habe in über zehn Jahren nie jemanden über den Wunsch sprechen hören, eine Bahnlinie zu reaktiveren. Manchmal hab ich mir zwar gedacht, wie toll das wäre, wenn ich Richtung Pachino an den verfallenen Bahnhöfen vorbeigefahren bin. Mit der Eisenbahn zu den schönen Stränden gelangen zu können, ins Vendicari und nicht jedes Mal in Catania ein Mietauto buchen zu müssen, um hier in meiner Provinz mobil zu sein.
Aber eine Bahnlinie zu reaktivieren, das dauert ja. Das kenne ich nur zu gut aus dem Norden. Ein solches Projekt verfolge ich daheim ja seit 25 Jahren. Der erste größere Artikel, den ich damals für meine Tageszeitung geschrieben habe, ging genau darum: Die Forderung, eine in den 1980er Jahren stillgelegte Nebenstrecke der deutschen Eisenbahn wieder zu beleben. Seither rolle ich nur noch mit den Augen, wenn sich wieder einmal ein Politiker angesagt hat, der das Projekt voranbringen will und so oft, wie in den diversen Wahlkämpfen in meiner deutschen Heimat schon der Durchbruch in dieser Angelegenheit verkündet wurde, verschwand das Projekt dann auch wieder in den Schubladen. Klimaschutz hin oder her, lieber wird nochmal eine neue Umgehungsstraße gebaut. Ich sage dann zu meinen Kollegen immer ironisch: „In Sizilien ändert sich nichts“ und meine damit meine nördliche Heimat.

Während ich also verwirrt und ungläubig an dieser sizilianischen Baustelle stehe, kommt ein älterer Mann auf mich zu. Er muss wohl in einem der Häuser etwas abseits der Straße wohnen. Ob ich eine Autopanne hätte, will er wissen und bietet mir seine Hilfe an. Ich verneine und frage ihn dann, was hier an den Gleisen gemacht wird. „Decisa la riapertura della ferravia tra Noto e Pachino“, sagt er da. Einfach so. Ganz unaufgeregt. Die Bahnlinie, auf der seit rund 35 Jahren kein regelmäßiger Zugverkehr mehr stattfand, soll wiedereröffnet werden. Ungläubig schaue ich den Mann an, der sich mir als Gaetano vorgestellt hat. 2025 schon soll es soweit sein.
Ich verabschiede mich leicht irritiert von Gaetano. Das will ich jetzt nämlich genau wissen und muss nicht lange recherchieren: Offenbar wurden in Italien 62 Millionen Euro bereitgestellt, um historische Bahnlinien mit touristischer Bedeutung wieder nutzbar zu machen. Und da war die 27 Kilometer lange Strecke vor meiner Haustüre mit dabei. Seit 2015 wurde darüber diskutiert, zehn Jahre später sollen die ersten Züge fahren. Im Januar 2022 haben die Vorbereitungsarbeiten begonnen, die Comune di Noto bringt sich tatkräftig mit ein.
Das nenne ich Effizienz. Da wurde scheinbar nicht viel geredet, und wenn doch, zumindest konstruktiv. Da gab es offenbar kein jahrzehntelanges Schaulaufen der immer gleichen Politiker, die ohnehin meistens nichts Vernünftiges zu Stande bringen. Zumindest bei uns nördlich der Alpen, in Bayern, ist das so.
In Sizilien wurde einfach gehandelt. Das wirkt auf mich so, als ob sich plötzlich die Pole umgekehrt hätten und die Effizienz des Nordens jetzt im europäischen Süden verortet wäre. Zeit für einen neuen Kompass in unseren Köpfen!