Toxische Beziehung

Mit mir unterwegs zu sein, ist nicht immer ein Vergnügen. Nicht, weil ich übellaunig wäre, sondern weil ich manchmal dem morbiden Charme von Lost Places erliege. Industriebrachen, verfallene Häuser, sowas. Eine solche Vorliebe kann nicht jeder teilen. Solche Mosaiksteine braucht es aber, um das Gesamtbild von Sicilia zusammenzusetzen.

Zufällig, weil ich mich verfahren hatte und ein Schild nach Thapsos wies, landete ich in Priolo Gargallo im manchmal als Viereck des Todes bezeichneten Gebiet zwischen eben Priolo, Mellili, Siracusa und Augusta. Leider ist das nicht ironisch gemeint.

Seit etwa 70 Jahren ist die Gegend nördlich von Siracusa ein Zentrum der italienischen Chemie- und Erdölindustrie. Der unterentwickelte Mezzogiorno sollte so den Anschluss an den Norden schaffen, was allerdings grandios gescheitert ist. Die erste Erdölraffinerie entstand dort jedenfalls 1949, heute sind insgesamt zehn Industrieanlagen aktiv: zwei Raffinerien, zwei Chemiefabriken, ein Zementwerk, zwei Industriegasanlagen und drei Kraftwerke.

Die Auswirkungen sind tödlich: Das Krebsregister der Provinz Siracusa hat eine Studie veröffentlicht, der zufolge es wohl nur durch die Umweltverschmutzungen erklärbar ist, warum es im industriellen Viereck zu einem Anstieg der Fälle kommt, während auf nationaler Ebene die Mortalität zurückgeht. Außerdem wurde offenbar festgestellt, dass Todesfälle durch Lungen- und Darmkrebs in der Gegend „exzessiv“ zunähmen, ebenso Atemwegserkrankungen und Erkrankungen des Verdauungsapparats.

Etwa 180.000 Menschen leben in diesem Viereck des Todes. Es heißt, jeder hier hat inzwischen einen Angehörigen, der an Krebs gestorben ist. Trotzdem – der Schicksalsglaube hat die Oberhand im Viereck des Todes. „Besser an Krebs sterben als verhungern“ ist angeblich ein zynischer Slogan der Bewohner, die um ihre Arbeit fürchten. Die steht wegen des Ukraine-Krieges ohnehin auf wackligen Beinen. Es geht um Lukoil, der größte private russische Mineralölkonzern und der Hauptspieler auf dem sizilianischen Treibstoffmarkt. Gefühlt jede Tankstelle gehört hier Lukoil. Schon im Sommer gab es Krisengipfel, es hängen tausende sizilianische Arbeitsplätze an den Russen.

Die Giftstoffe der Petroindustrie sind hier jedenfalls überall. Auf der Halbinsel Magnisi in der Nähe von Priolo wurden vor Jahrzehnten chemischen Schlacken aus einem der nahe gelegenen Werke abgelagert. Die Abfälle wurden damals unter Plastikplanen zurückgelassen, die einfach nur von Pfosten gehalten wurden. Regen und Sonne haben die Abdeckung längst verwittern lassen. Der Wind verteilt die Staubteilchen in der Luft. Trotzdem sind Im Sommer die Strände genauso überfüllt wie überall auf der Insel.

Auch das Quecksilber im Wasser hält die Sizilianer nicht vom Baden und Angeln im Meer ab, aller Warnhinweise zum Trotz. Schon vor fast 20 Jahren wies die Biologin Mara Nicotra in den Meeressedimenten eine Quecksilberkonzentration von mehr als 22 Milligramm pro Kilo nach. Die italienische Umweltbehörde Ispra ermittelte sogar einen dreimal so hohen Wert – dabei liegt die maximal tolerable Konzentration bei gerade mal einem Milligramm. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1958 und 1980 bis zu 500 Tonnen Quecksilber ins Ionische Meer gelangt sein könnten. Als eine wesentliche Quelle der Verschmutzung galt stets das damalige Chemiewerk von Montedison. Das Unternehmen existiert allerdings schon lange nicht mehr, das Werk gehört mittlerweile dem italienischen Energie- und Erdölkonzern ENI. Der weist allerdings jede Verantwortung von sich, was auch sonst.

Eigentlich müsste die gesamte Gegend komplett saniert werden, aber die Industrie winkt ab. Es sei schon genug in den Umweltschutz in Sizilien investiert worden, meinen die Bosse. Und verweisen auf den Staat, der bisher zu wenig getan habe.

Ziemlich gruselig das alles. Die Hölle, von der Lampedusa in seinem Gattopardo geschrieben hat, findet sich nicht in Randazzo, sondern hier.

4 Kommentare zu „Toxische Beziehung

    1. Das kann ich mit meinem Blick von außen nicht beurteilen. Aus der deutschen Perspektive finde ich die designierte Ministerpräsidentin an sich gruselig. Der italienische Teil in mir hat kein Vertrauen in die Regierung. Und ich glaube nicht, dass das Viereck des Todes eines der brennenden Probleme in diesem Land ist. Solange die Sizilianer*innen nicht aufbegehren…

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      1. Wie sagte heute Draghi im letzten Cdm sinngemäβ: Die Regierungen kommen und gehen, Italien bleibt. Wenn doch bloß nicht so viele Missstände auch bleiben würden. Aber um die anzugehen, bräuchte es mal mehr Zeit für eine Regierung, das Versprochene auch umzusetzen. Was den bevorstehenden Amtsantritt betrifft, tröste ich mich absurderweise gerade genau damit, dass die nächste Krise sicher bald kommt. Es ist traurig. Aber klar, die Menschen müssen aufbegehren, die italienische Art sich zu arrangieren ist zwar oft gar nicht verkehrt aber wie hier, wenn es um die Gesundheit und die Umwelt geht, nicht angebracht.

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      2. Da hat er sicher Recht, aber die Frage ist tatsächlich, wie Italien bleibt. Das gleiche gilt ja auch für Deutschland. Die Menschen glauben, dass Regierungen alle Probleme lösen könnten. Und wenn es nicht schnell genug geht, fangen sie zu murren an und rennen den Parteien nach, die am meisten versprechen. Auch wenn der gesunde Menschenverstand sagt, dass das alles gar nicht funktionieren kann. Mir geht es wie dir: ich hoffe auf die nächste Krise, die diese bizarre italienische Politikerin wegspülen wird. Aber das ist auch keine Lösung.

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