Wo gibt es denn sowas: eine Schutzheilige für Rennradfahrer? In Italien natürlich: die Madonna del Ghisallo. Gefühlt gibt es jedenfalls nirgends so viele Rennradfahrer wie in Sizilien. Jetzt, im Oktober, scheint jedermann auf den Velos mit den dünnen Reifen unterwegs zu sein.
Während in meiner Heimat Deutschland das Fahrrad zu einem profanen Nutzfahrzeug zu werden scheint, für das allerorten eigene Straßen gebaut werden, die neben den eigentlichen Straßen liegen, ist das hier in Sizilien offenbar nicht nötig. Die Rennradpedaleure nehmen sich einfach den Platz, den sie brauchen. Denn sie sind die wahren Könige der Landstraßen.
Ist nur einer unterwegs, was allerdings sehr selten der Fall ist, ist das kein Problem. Ist ein ganzes Peloton auf der Straße, kann es schon mal eng werden. Platz zu machen für ungeduldige Autofahrer ist für die Rennradfahrer offenbar keine Option. Schnell ist man dann unfreiwillig in der Rolle des Begleitfahrzeugs. Vielleicht sollte man immer Wasserflaschen und Energieriegel mit dabei haben, die man den Fahrern aus dem Fenster reichen könnte. Immerhin lässt sich das Tempo der Räder am Tacho ablesen und das ist manchmal gar nicht so langsam.

Auffällig ist auch, dass Autofahrer viel Geduld mit den Rennradfahrern haben. Während eine zu langsame macchina gnadenlos bedrängt, angehupt und riskant überholt wird, lässt man den Zweirad-Helden alle Zeit und allen Platz der Welt. Auch wenn die aufrecht auf ihren Drahteseln sitzen und nur gemütlich mit dem Nachbarn plaudern oder in ihr telefonino quatschen. Wieder so ein sizilianisches Wunder.
Es muss am Mythos liegen, an den großen Namen. Fausto Coppi kennt immer noch jeder. Marco Pantani ist noch immer der Held, der 1998 die Tour de France gewonnen hat. In Deutschland undenkbar, da wird Jan Ullrich aus den hinlänglich bekannten Gründen nur mit spitzen Fingern angefasst. In Italien hingegen wurde er erst dieser Tage dafür gefeiert, sein Tour-Rad, mit dem er 1998 hinter Pantani Zweiter wurde, der Madonna dagelassen zu haben.
Italien ist eben anders, der Giro, die Räder. Die Rahmen, die kompletten Rennmaschinen, klassisch wie modern, verfügen über eine besondere Optik, die aus kaum begreifbaren Gründen noch schöner wirkt als bei Rädern aus anderen Quellen. Warum? Schwer zu sagen. Ein Herrenanzug aus Mailand sieht ja auch nicht grundlegend anders aus, strahlt aber oft eine besondere Eleganz aus.

Selbst Hobby-Rennradfahrer an sich strahlen in Italien Stil und Grazie aus, selbst wenn sie das exakt gleiche Funktionswäschezeug anhaben und auf dem gleichen Rad sitzen wie Radfahrer, die sonst nördlich der Alpen ihre Runden drehen. Da tuckert man gerne ewig hinter einem Peloton her.
Und weil es eben eine Schutzheilige für die Rennradfahrer gibt, passieren vermutlich trotzdem nicht mehr Unfälle als anderswo. Trotz der prekären Verkehrssituation in Sizilien. Von den grässlichen Schlaglöchern ganz zu schweigen.
Mich wundert nur, dass die Wallfahrtskirche der Madonna del Ghisallo, die 1948 von Papst Pius XII. offiziell zur Schutzpatronin der Radsportler ernannt wurde, nicht irgendwo in Sizilien steht, sondern ganz am anderen Ende Italiens, am Lago di Como. Der Ort Magreglio, vielfach Zielort von Etappen des Giro d’Italia, hat sich seither zum Pilgerort der Radsportgläubigen entwickelt. Wenn ich das nächste Mal mit dem Auto, noch besser mit dem Rennrad, nach Sizilien fahre, wird das auf jeden Fall ein Etappenziel sein!