Der heilige Konrad

Zum Glück bin ich katholisch. Das spielt in meinem deutschen Leben zwar keine allzu große Rolle. In Sizilien eigentlich auch nicht. Aber wenn Noto seinem Stadtpatron San Corrado huldigt, weiß ich so wenigstens, dass die Menschen nicht völlig verrückt geworden sind.

Die ganze Stadt ist an diesem Tag auf den Beinen. Ich bin ja schon froh, dass die Menschen nicht auf Knien der processione folgen. Aber barfuß oder zumindest nur in Strümpfen laufen viele hinter dem schweren silbernen Sarg her, den Männer in weißen Hemden zuerst mühsam die vielen Treppen des Domes hinunterschleifen, um ihn dann wieder ungezählte Treppen hinaufzuschleppen zu uns nach Noto alta. Natürlich beginnt das Ganze mit Böllerschüssen, so dass Millionen Vögel aufschrecken und in Schwärmen den Himmel verdunkeln.

Wenn dieses weithin hörbare akustische Signal gegeben ist, ist es langsam Zeit, sich auf unsere Piazza Mazzini zu begeben, um noch einen bequemen Sitzplatz vor der chiesa crocifisso zu ergattern und zu beobachten, wie sich der Platz langsam füllt. Autos müssen noch in letzter Minute umgeparkt werden. Das dauert. Die polizia municipale ist zwar auch vor Ort, tut aber so, als ob sie das alles nichts angeht.

Nach und nach kommt fast die gesamten Nachbarschaft dazu, es gibt ein großes Hallo, über den Platz legt sich eine Geräuschkulisse wie auf einem Rummelplatz. Und plötzlich ist die Prozession da. Einfach so. Ich weiß nicht, was die einzelnen Gruppen für Bedeutungen haben, aber offenbar ist in jeder Formation irgendein Familienmitglied aus einer Familie in Noto alta vertreten. Oder alle sind hier sowieso irgendwie miteinander verwandt. Denn es gibt überall ein großes Hallo.

Die Prozession vermischt sich vor der Kirche mit der Menschenmenge. Jede Ordnung, sofern es überhaupt eine gab, löst sich auf, selbst die üppig vertretenen Pfarrer und Bischöfe verlassen ihren Platz. Irgendwo findet zwar eine religiöse Handlung statt, nur interessiert sich niemand dafür. Dafür hängen alle an ihren telefonini, selbst der Bischof.

Während der silberne Sarg vor der Kirche steht, werden Blumensträuße auf ihm abgelegt. Kinder werden auf das Podest gesetzt, alle versuchen, das kunstvoll verzierte Stück zu berühren. Die portatori di San Corrado nutzen die Pause, um zu rauchen oder zu telefonieren.

Irgendwann klingelt eine Glocke, das Signal für den Aufbruch. Die Prozession zieht weiter. Eine meiner Nachbarinnen, sonst nur in schicken High Heels unterwegs, gehört zu den Barfuß-Pilgern, aber sie hat jetzt genug und geht nach Hause. Sobald San Corrados Sarg hinter dem Gefängnis verschwunden ist, löst sich die Menschenmenge auf, die geöffneten Geschäfte lassen subito ihre Metallrolläden herunterrattern. Die Piazza Mazzini ist wieder so leer wie an einem ganz normalen Abend.

Erst Stunden später, wenn das obligatorische Feuerwerk zum Abschluss noch einmal die Nachtruhe der Vögel stört und signalisiert, dass San Corrado wieder heil in den Dom zurückgekehrt ist, weiß ich, dass ich mir das Ganze nicht eingebildet habe. Meine Nachbarin Rosetta amüsiert sich ein bisschen, als ich begeistert von der Piazza zurückkomme. Sie hat den Trubel nämlich bequem zu Hause vor dem Fernseher verfolgt.

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